Verfolgung, Ausraubung….lebenslang

Verfolgung, Ausraubung…. vollenden sich nun, da ich auf meinen 70. Geburtstag zugehe.

Wenn wir die mittelalterlichen Verfolgungen ansehen, z.B. das Vorgehen der Inquisition gegen die, die nicht das “Richtige” dachten oder sagten oder deren Tun nach Kirchenmeinung unbotmässig war, war der Ablauf strukturell immer gleich:

Zuerst und immer das Quälen, denn sie müssen ihrem Hass Ausdruck geben, Beziehungen zerstören, Schocks verabreichen, Verwirrung stiften. Dann die sorgsam eingefädelte Heuchelei: “wir sind für die Kinder der anderen da” predigt der Obere nach internen Diskussionen, gemeint ist, wenn der Mann/ Vater jetzt schnell im Jesuitengehorsam eine ältere Witwe mit vier Kindern heiratet, wird es viel schwerer sein,  nachzuweisen, dass er, noch offiziell im Orden, ein eigenes Kind bekam. Auch verliert die Kirche, hier der Jesuitenorden, nie aus den Augen, das man bei Verfolgung und Diskriminierung von Unbotmässigen  Geld sparen und Geld verdienen kann.  Dem Mann/ Vater wird verboten, auch nur Unterhalt  für sein Kind zu zahlen, Da das ungesetzlich ist, lügt er von da an über alles. Sein Leben wird zur Lüge.Seine  Angst, wenn er auch nur seinem Sohn ein Geschenk zukommen lassen will. Wie bestimmte Psychotiker soll er üben, die Realität zu leugnen: er  h a t   k e i n  Kind. Lässt  sich seine Psyche nicht völlig zerstören, führt das zu dauernden Irritationen  zwischen Vater, Mutter und Kind- Was er verdient, kommt indessen der plötzlich für den Zweck geheirateten “Ehe” frau und deren Kindern zu, die der Kirche, dem Orden genehm sind. Aber auch der Kirche direkt lässt er bis ans Lebensende “Spenden” zukommen, während er lügt und lügt und lügt .

Was dem Sohn rechtmässig zustand ( und der Vater durchaus hatte) und die Schäden, die besonders dann entstanden, wenn Vater, Mutter, Kind zusammen etwas planten, geht über die Hunderttausend  hinaus. Da konnten bei seiner  Beerdigung Priester seines Ordens  eine Dankmesse feiern.

Ich hatte schliesslich Strafanzeige gestellt. Als nichts geschah, protestierten wir, sehr offiziell anerkannt, vor dem Verfassungsgericht. Hier nun schaffte es ein anderer Katholik. Direktror der eher nicht politischen Abläufe, dass  wir den Ort verlassen mussten, bevor die bestellte Akte ankam. Rechtlos in Deutschland, verliessen wir das Land und kamen lang nicht wieder. Dabei ist vieles aus meinem Haushalt  verloren gegangen, auch Papiere.

Letzten Herbst erhielt mein Anwalt vom Bundessozialgericht die Mitteilung, dass es unmöglich ist, schon jetzt, nach 5 Jahren !, eine Entscheidung über die mir aufgrund meiner Beiträge zukommende Rente zu fällen.

Nehme ich nur die einfachsten Arbeits-/ Beitragsposten, von denen sie die meisten mit Sicherheit ohne Mühe im Computer finden können, sind es zweifellos bis heute etwa ca. 13.OOO Euro, die der Staat einbehält. Ich bekomme ein Taschengeld, statt der mir zustehenden Beträge-

Bei den inquisitorischen Verfolgungen,  auch Hexenverfolgungen etc. haben sich Kirche und Staat immer das Hab und Gut dere Betroffenen geteilt. So auch hier – bis jetzt.

Sitzstreik vor dem Heinrich Pesch Haus, Ludwigshafen, 12.2.2015

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In Rijsbergen

In Rijsbergen

Wiltrud Weber

WILTRUD WEBER
Biographisches und Vorwort

Ich bin geboren am 29. März 1945 in Bad Windsheim/Mittelfranken. Wie bei so vielen anderen in dieser Zeit gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, waren die Umstände während der Schwangerschaft, bei der Geburt und während der ersten Lebenszeit dramatisch. Meine Mutter stammte zwar aus Nürnberg, also auch aus Franken, aber sie war über einen riesigen, gefährlichen Umweg schließlich in das Dorf Marktbergel gelangt. Mein Vater, aus Tilsit (heute Sowjetsk) in Ostpreußen stammend, kam nach kurzer Kriegsgefangenschaft hierher. Wie mein Vater kein Nazi gewesen war, war er jetzt auch nicht einer von denen, die übermäßig die „Alte Heimat“ reklamierten.
Aber das Wort Flüchtling begleitete doch auch mein Leben in der Kindheit, ich erinnere mich an große Versammlungs-Zelte, wo auch mein Vater von Tisch zu Tisch ging, nicht zuletzt, um von anderen ostpreußischen Flüchtlingen zu hören, ob, wann und wo jemand seinen vermissten Bruder zuletzt gesehen hätte. Als Fremder wurde er noch lang diskriminiert, noch zehn Jahre später in Düsseldorf hieß es bei Auseinandersetzungen abfällig: Der kommt aus der „kalten Heimat“. Was es bedeutet, wenn man seinem Kind die Heimat nicht einmal in einem Urlaub zeigen kann, begriff ich erst viel später.
Das freie Leben auf dem Land, Herumlaufen auf dem Dorf, in die Häuser, zu den Leuten, schon als sehr kleines Kind, später lange Ausflüge über Wiesen und Felder, Spielen mit den Bauernkindern in Scheunen… haben mich mein Leben lang Sehnsucht behalten lassen nach „Natur“ und „Landleben“. Negative Aspekte habe ich übersehen oder vergessen.
Ich war immer leidenschaftlich das, was man „religiös“ nennt und bin es geblieben. Als kleines Mädchen betete ich manchmal heimlich auf dem Friedhof als einem stillen Ort, das „Auge Gottes“ an der Decke der lutherischen Dorfkirche hat mich sehr nachhaltig angerührt. Das kam nicht von den Eltern, die evangelisch waren, aber nicht sonderlich dezidiert oder kirchlich.
Als ich neun Jahre alt war, übersiedelten sie nach Düsseldorf, nach einem halben Jahr bei der Großmutter in Nürnberg und in der dortigen Schule folgte ich ihnen.
Mit fünfzehn wurde mir, eigentlich recht plötzlich und trotz bis dahin mäßiger Leistungen in dem Fach klar, dass ich „Frankreich“ und die französische Sprache will. Etwa um dieselbe Zeit, nach meiner Konfirmation, verstand ich schubweise, dass ich katholisch sein wollte. Ich hatte die katholische Kirche, die in Mittelfranken nach dem Krieg sehr weit weg und regelrecht exotisch erschien, wenn überhaupt je davon die Rede war, in Düsseldorf kennengelernt und liebte sie wegen Kult und Mysterium und beeindruckender intellektueller Ausgestaltung des Lehrgebäudes in Büchern, im Gegensatz zur allzu nüchternen rheinisch-reformierten Kirche, wo ich entgeistert ein Leben als brave Hausfrau vor mir sah, die nicht diskutiert und sich sonntags in einer bilderlosen Kirche eine Predigt anhört…
Mit siebzehn wurde ich katholisch, mit neunzehn, nach einigen Umwegen, begann ich, den Übersetzer zu machen und währenddessen nachts im Auslandsfernamt zu arbeiten, wo ich schon direkt nach der Schule, als mein Plan für die Zukunft noch nicht endgültig war, fast zwei Jahre ganztags angestellt war.
Übersetzerin 1966, ein Jahr Arbeit in der Champagne in einer Kreidefirma, Leben in dem Dorf nebenan, Freundschaft mit der Familie des Bürgermeisters, dem alten Curé und seiner Schwester und vielen anderen. Dolmetscherin 1967 nach einer Rückkehr nach Deutschland.
Idealistisch, wollte ich keinesfalls dauernd in Industrie oder Wirtschaft arbeiten, sondern etwas „richtig Gutes“ machen und habe mich in dieser Absicht sofort als Dolmetscherin selbständig gemacht. Noch in La Chaussée-sur-Marne hatte ich begonnen, französische Artikel für eine katholische Zeitschrift für studierende junge Erwachsene zu schreiben und kam über den Versuch, einen anderen Artikel aus diesem Heft für eine entsprechende deutsche Zeitschrift zu übersetzen, in Kontakt mit zuerst Veranstaltern von deutsch-französischen Priesterkursen, einer Art gemeinsamer Fortbildung in der Begegnung von deutschen und französischen Priestern in Deutschland und Frankreich in loser Folge, wo ich einige Jahre lang dolmetschte. Nach und nach eroberte ich mir meinen übrigen „Markt“ als Konferenzdolmetscherin in Deutschland, Frankreich und gelegentlich anderen europäischen Ländern für knapp zwanzig Jahre.

Nach sieben Jahren als Dolmetscherin hatte ich das Bedürfnis, neben der Arbeit noch einmal theoretisch etwas dazuzulernen. Ich schrieb mich ein an der Ecole Pratique des Hautes Etudes in Paris. Um näher beim Psychologie-Seminar von Meyerson zu sein, nahm ich 1973 ein Zimmer im Chateau der Jesuiten in Chantilly (ich kannte es von einem Dolmetsch-Auftrag), das zu der Zeit als „Centre culturel“ für Tagungen etc. fungierte, wo man aber auch zu Studienzwecken und um die berühmte Bibliothek zu nutzen, sich einmieten konnte.
Dort kam einige Tage nach mir, im März 1973, Francis Peter Kelly an, aus seiner Amtszeit als australischer Jesuitenprovinzial in ein Sabbatjahr. Unser intensives Gespräch begann quasi sofort, der Wunsch, zusammenzusein, intensivierte sich ebenfalls auf Reisen, in Frankreich, in Deutschland bei mir. Unser Sohn David wurde im November 1975 geboren. Der Schock über die Art und Weise, wie der Vater buchstäblich verschwand, war schlimm. Aber der ganze Hass der katholischen Kirche auf die Kinder noch weit mehr als auf die Frauen der katholischen Priester und Ordensleute, gar wenn sie zur Spitze eines Ordens wie der „Gesellschaft Jesu“ gehören, dieser Hass, den ich inzwischen aus vielen Berichten kenne, kam bei uns zunächst nicht an. Ich war glücklich über die Geburt meines Sohnes, meine Eltern über ihren Enkel, manche Bemerkung von katholischen Bekannten habe ich gar nicht wirklich verstanden, ich bin ja zum Glück nicht katholisch aufgewachsen. Ich habe noch Jahre auch in katholischen Konferenzen gedolmetscht, da ich Freiberuflerin und auch sehr geschätzt war in meinem Fach, kam es dort, für mich selbstverständlich, für alle Katholiken, die zu der Zeit oder später davon hörten, unverständlich, oder sogar „ nicht richtig“, nicht zu Konflikten, weil ich auch Mutter bin. Für mich war und ist es selbstverständlich, dass es ein Glück ist, (ein)Kind(er) zu haben, den konventionellen Rest habe ich nicht beachtet, wo ich es nicht unbedingt musste.

Schon seit 1974 hatte ich auch Japanerinnen in Deutsch unterrichtet. Das war eine sehr gute und schöne Zusammenarbeit, beinahe 10 Jahre lang. Zurück in Franken für einige Jahre, habe ich mich später in Nürnberg fast ganz auf’s Unterrichten verlegt. Es waren extrem heterogene Klassen von Erwachsenen aus aller Welt, von Papua-Neuguinea bis zur Türkei und extrem unterschiedliche Level und Vorkenntnisse: von der Inderin, die ihre eigene Sprache nicht schreiben konnte, bis zur graduierten Amerikanerin. Immer war das Zusammensein mit Schülern und Schülerinnen aus aller Welt sehr erfreulich für mich; meine Schüler liebten mich, wie ich zu scherzen pflegte, wahrscheinlich, weil ich von Hause aus eigentlich nicht Lehrerin bin.

Während dieser Zeit intensivierte sich der Kontakt mit Davids Vater, nach mysteriösen Nachrichten und sporadischem Kontakt in den ersten Jahren, und langsam und mit Schrecken habe ich (und mein Sohn, der jetzt schwere Schocks mitmachte) erst jetzt richtig erlebt, auf welche widerwärtige und betrügerische Weise Peter Kelly beiseite geschafft worden war. Die extremen Belastungen aus unseren Versuchen, nun zusammen etwas zu tun, mit ihren regelrecht ferngesteuerten Katastrophen, ließen mich einen Ort suchen, wo ich – und mein Sohn, wenn er es wollte – etwas Abstand gewinnen könnten. Durch eine Annonce kam ich zufällig zu einem uralten Haus in einem einsamen Weiler auf einem Berg unterhalb von Carcassonne, in eine der raren Gegenden in Frankreich, die ich nicht einmal vom Hörensagen kannte. Hier war es, an seinem Auto, auf dem stockdunklen kleinen Dorfplatz am Abend, wo der Spiegel-Redakteur, der mich wegen unserer Geschichte besucht hat, sagte: “Warum sind Sie gerade hierher gekommen? Hier nämlich führt ein roter Faden aus der Vergangenheit direkt zu Ihrer Geschichte“. Ich aber hatte bis kurz vor seinem Besuch, als Nachbarn darüber erste Andeutungen machten (außer mir gab es hier zwei alte und drei uralte Dorfbewohner) nicht einmal eine Ahnung gehabt von dem, was dort seit tausend Jahren verhandelt wird.
Die wachsende Erkenntnis, was in unserer Familie eigentlich geschehen war, führte auch zu wachsendem Konflikt mit dem Jesuitenorden und durch die Eingriffe und Mechanismen, mit denen die katholische Kirche persönliches integres Verhalten „bestraft“, wobei der Staat, absichtlich oft ohne genau hinzusehen, ihr durchaus Hilfestellung leisten kann, zu einer regelrechten Verfolgung. Sie brachte uns schließlich auch ins Asyl nach Rijsbergen in den Niederlanden. Der winzige Ort gehört zu Groot-Zundert, wo Vincent van Gogh geboren ist.

Dass Deutsche in einem anderen europäischen Land in die Asylprozedur aufgenommen werden, ist natürlich höchst ungewöhnlich. Die Umstände erschienen uns zu dem Zeitpunkt so, dass ein „offizieller“ Eintritt nach Holland mit einer Bestandsaufnahme und gleichzeitig eine Atempause notwendig waren. Das ist auch von den Verantwortlichen, die unsere Anfrage erst einmal ohne große Umstände akzeptiert haben, verstanden worden.

Es ist bei aller Überraschung letztlich durchaus logisch, dass eine solche Familiengeschichte ins Asyl führen kann. Führt doch die katholische Kirche gegenüber den Kindern ihrer Priester und Ordensleute eine Politik der Verfolgung wie ein Menschenrechte verletzender anderer Staat , hier in den Staaten Deutschland und Australien.

Die Schwerpunkte und Themen meines/unseres Lebens, u.a. Internationalität, Religion, Jesuiten, tauchen im Essay auf, Realität der Asylbewerbung wird beschrieben, dabei die Freundschaft und Solidarität mit den anderen Asylanten. Vincent van Gogh, dessen holländischen Weg wir in Schwerpunkten dabei nachvollziehen, natürlich ohne es vorher und noch währenddessen, zu ahnen, steht dabei auch als herausragender Name europäischer Kultur, der in aller Welt leuchtet, während die gequälten Menschen aus aller Welt zu seinem Geburtsort kommen.

Übersetzungen auftauchender Sprachen befinden sich als Anmerkungen am Ende. Im Text selbst geben Zitate im Original wenigstens einen gewissen Eindruck davon, wie der Ankömmling sich auf einmal, dann aber ständig, in verschiedenen Sprachen bewegt. Die plötzliche Bedeutung der Landessprache wird widergespiegelt.

Es hat sich die unmenschliche und auch gegen den Anschein unqualifizierte scheinbare Selbstverständlichkeit herauskristallisiert, dass von massivem Unrecht Betroffene, das gilt nicht nur für Asylanten, kaum je für sich selber sprechen dürfen. Wohlbestallte Leute müssen das angeblich professionell für sie tun, womit immer auch eine Verformung einhergeht und unterschwellig häufig das ekelhafte und tödliche Vorurteil transportiert wird, dass Menschen, die in solche Lagen kommen, immer schon damit gezeigt hätten, dass sie ein wenig zu dumm sind für die normale Weltgesellschaft, nicht schlau wie z. B. gewisse Journalisten, oder Sozialpädagogen, die, anstatt sich verfolgen zu lassen, über Verfolgte schreiben oder „mit ihnen arbeiten“.
Unsere Asylgeschichte hat, im Nachhinein betrachtet, auch die einzigartige Gelegenheit gegeben, wirklich mit allen anderen erlebt zu haben, was das heißt, sich um Asyl zu bewerben, und doch, zum Teil, weil wir trotz allem Europäer sind wie das aufnehmende Land, einen schmalen, offenen Spalt vorzufinden, in dem wir mit den und dabei auch für die anderen sprechen können.

Die ersten Fassungen des vorliegenden Essays habe ich im Jahr 2001 nachts von Hand geschrieben in Utrecht, in einem auf dem dortigen Campingareal gemieteten Ferienhäuschen, während mein Sohn David die ungefähr schwerstmögliche Arbeit in einer Brotfabrik gemacht hat. Es entsprach gut dem Kirchengesetz von 1022 über die Priesterkinder: Sklaven sollten sie sein, zweifellos besonders jene unter ihnen, die zur akademischen Arbeit befähigt sind. Tagsüber habe ich die Arbeiten zum Text in der Universitätsbibliothek gemacht. Einer der Bibliothekare, den ich dort kennen lernte, hat mir erlaubt, den Text im Büro der Bibliothekare in den Computer zu geben. Er hat mir dabei geholfen und war auch sonst während unserer gesamten Zeit in Utrecht sehr hilfreich.

In Rijsbergen

 

“de herinnering aan vroeger kwam bij mij op, o.a. hoe dikwijls hebben
wij so in de laatste dagen van februari met pa gewandeld naar RIJSBERGEN
enz. En de leeuwerik gehoord boven de zwarte akkers met het jonge, groene
koren, de tinkelende, blauwe lucht met witte wolken erboven – en de steenweg met de beukenboomen
o Jerusalem, Jerusalem! Of liever: o Zundert, o Zundert!” 1

(Brief 85 von Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo)

 

Ich sehe noch den “Sämann”, mehr aber noch die “Boote“ auf See und am Strand in Klassen zimmern und öden Schulkorridoren in Deutschland:eigentlich immer in schäbigen Farben,nicht vital, wie Vincent selbst sie erlebte und malte, sondern nur mit dem Kopf gewusst und benannt: das soll grün sein, jener Streifen gelblich etc.

Mein Leben musste dramatisch werden, um immer mehr van Goghs in die Wohnung, in die Schlafzimmer zu holen. Die STERNENNACHT , die mit der Himmelsspirale und dem Kirchturm, in ihrem wunderschönen, nächtlichen Blau nach Davids Geburt, über meinem Bett. Das Glück der Geburt bekam eine dramatische Färbung durch das mysteriöse Verschwinden von Davids Vater, einem leitenden, australischen Jesuiten.

Im Buch “Vincent’s religion” des Jesuiten Meissner spannt sich unerwartet auch Vincents Sternennacht über dem Dach der Jesuitenzentrale in Rom aus. In diesem Buch lernt Vincent van Gogh – der das etablierte Christentum en connaissance de cause von Grund auf hasste, Gott aber liebte – posthum, dass “Gott” psychoanalytisch ein winnicottsches Übergangsobjekt darstellt, Ignatius hingegen ein reifes, reales Objekt das foreverandever auf der römischen Dachterrasse sitzt und in eigentlich seine, Vincents, Sternennacht hinaufblickt, während ihm die Tränen herunterlaufen, während ich, die Himmelsspirale über meinem Bett, ein Gedicht mache: tränenüberströmt: Gesicht meines Kindes / und des Mannes / mit dem Visier.

Das alte Wort Trost hat nichts Sentimentales, es ist kein billiger Trost. Den Trost, der vom Gefunkel der Sterne im nächtlichen Blau ausgeht, fühle ich auch, wenn ich im Bett liege, das Bild so nicht sehe, sondern nur weiß, dass es da ist, über meinem Kopf.

Der Versuch, 15 Jahre später, jene jesuitische Missetat aufzuklären und zu korrigieren, reißt unser Leben von dramatisch in tragisch-gefährlich. Bei einer der tragischen Zuspitzungen trifft meine Mutter der Schlag, als der Enkel, verzweifelt aus dem Australien des Vaters kommend, bei ihr Station macht Sie kann fast nicht mehr sprechen, aber sie gibt zu verstehen, dass sie einverstanden ist, dass sie sich freut, wie ich das Bild
das sie schon immer liebte, in einer schönen, farbigen Reproduktion so ans Bett hänge, dass sie es sehen kann: die Brücke von Langlois, für uns immer nur „ die Brücke“. Und nun wissen wir, dass sie schon schlagartig jene andere Brücke betreten hat. Nach ihrem Tod akzeleriert und eskaliert unsere Geschichte immer irrer: Verfolgung, die uns schliesslich zu Beginn des Jahres 2000 nach Rijsbergen bringt, das zu Zundert gehört: Vincent van Goghs Geburtsort.

Diese Mutter dort, die aussieht, wie von den (süd)östlichen Anrainern Europas, ihren vielleicht Fünfjährigen an der Hand, jene zwei Gelben… dieser Afrikaner, der nur einen Zettel mit der Adresse in den Händen hält und die nette Frau vom einzeln stehenden Haus nicht weit davon vorsichtshalber noch einmal fragt, wo… suchen, was in der Beschreibung von van Goghs letzten Jahren so häufig zu lesen ist, am Ort seiner ersten Jahre: Asyl. Wie sie, wie die meisten, habe ich nicht die geringste Ahnung, ich denke alles, bloß nicht: van Gogh, als der Leiter des Asylcenters (O.C.) Oosterwijk sagt: ”Da musst du nach Rijsbergen gehen”, (was nicht das deutsche, vertrauliche du ist, wie ich später lerne, sondern eine Adaptation des holländischen “U” ( Sie) , die Niederländer zuweilen herstellen, wenn sie spontan mit Deutschen deutsch sprechen.

Nach einigem Umherirren waren wir am 21. Januar 2ooo an der Rezeption des O.C. Oosterwijk angekommen. “Wenn alles schlecht geht”, hatte ein deutscher Sympathisant, dann Freund während unseres langen Protests vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gesagt, ” hier vorsichtshalber die Adresse von Oosterwijk.“ Als er dort, schon
etliche Jahre geleden – Hilfe suchte, konnte man noch, wenn an Ort und Stelle akzeptiert, direkt zur maximal dreimonatigen Prüfung des Falls in dem Asylbewerber-Center bleiben. Obgleich er damals nach drei Monaten gehen musste, war er voll des Lobes: für die coole, demokratische Gesinnung im O.C., für die Humanität und Toleranz der Holländer.

Wir mussten wegrennen von Karlsruhe nach… Frankreich. Die Konservatorin der Bibliothek in Carcassonne sagte es so: “Vous devriez vous faire oublier par… la religion…” 2 – aber ich habe dort die theoretischen Arbeiten für ein Land-Art-Projekt gemacht, ein größeres Projekt mit historisch-religiöser Thematik in einer Gegend, in deren Geschichte etliche brisante, historische Ur-Fragen des Christentums verdreht, versteckt, verdunkelt worden sind, damit es so bis zu uns transportiert werden konnte, wie wir es kennen. Welche Kombination aus Intrige und Pech, in der auch der Bischof von Carcassonne vorkommt, hat gemacht, dass wir weg mussten unter Umständen, die Böll für die Odysseen der D.P.s (displaced persons) am Ende des zweiten Weltkriegs beschrieb. Und hätte nicht, geradezu biblisch, einer, der Soldat in der Fremdelegion gewesen war, uns beigestanden, wir hätten gar nicht mehr die Kraft gehabt, wegzukommen.

Es ist schon nach 10 Uhr abends, als uns ein Auto an der richtigen Stelle abliefert. Zwei Herren, die wir nach dem Weg gefragt haben, setzten kurzentschlossen ihre Frauen aus dem Auto (!), um uns schnell dorthin fahren zu können…

“Whom do you want to visit?! We are closed!” “Wir wollen niemanden besuchen, wir fragen um Asyl….. wir sind Deutsche.” Sie holen den Chef. Zum Glück ist es der von damals beim Freund. Der sagt den Satz: “Da musst du nach Rijsbergen…”, denn das ist jetzt das Règlement. Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten. „Ich kann heute nirgends mehr hingehen“, sage ich. Sie sind übervoll, aber sie finden zwei Notbetten in einem Abstellraum.

Einer der Mitarbeiter sucht liebevoll in der längst geschlossenen Küche zusammen, wovon er meint, dass es uns gut tut: etwas Substantielles, etwas Frisches, Milch und das Elixier, das in Holland immer und überall dabei ist: Kaffee David, der auf Anhieb besser Holländisch versteht, hört noch, wie dieser Engel zu seinem Kollegen sagt: “Der Vater von dem war ein hoher Jesuit. Da kannst du dir vorstellen…”
Schlaf, wie
ein Stein… –

– als ein ganz anderer, erschreckender Ton losbricht. Mit lautem Pochen wird die Tür aufgerissen: ”Jetzt ist es genug mit dem Schlafen! You must go to Rijsbergen!”
Barsch ist gar kein Ausdruck, eine Uniform habe ich gestern Abend nicht gesehen, wer ist der?
“Stehen sie auf!”, als ich noch nicht richtig bei mir bin. Der hat Angst, dass wir illegal in diesem Abstellraum bleiben.

Die Engel sind verschwunden.
Nach Rijsbergen!

 

“Van Breda ging hij lopend naar Zundert, dat was een wandeling van drie uur.”

Aus: Jan Meyers:
De jonge Vincent

 

Wir nicht; für uns nicht. Wir waren noch nicht ganz aus Breda herausgelaufen, als wir einen Moment unsicher wurden. Wir fragten ein Ehepaar auf dem Sonntagsspaziergang: Is this the right direction to Rijsbergen? Sie zeigten in die Richtung: ”Aber das ist sehr weit…” “Macht nichts,” sagten wir, “wir gehen eben, bis wir da sind.”
Wir befolgten wörtlich “nach Rijsbergen gehen , denn, was im Zug ging, wo man uns als Asyl- Suchende umsonst mitnahm (o holländische Züge, o Schaffner! Ihr habt mir einigen Glauben an die Menschheit wiedergegeben!) war für den Bus, von Breda aus, nicht möglich. Nach ein paar hundert Metern stoppt ein Auto neben uns: “Wir fahren Sie hin!” Die Sonntagsspaziergänger waren umgekehrt und hatten ihren Wagen herausgeholt. Unglaublich freundliche Niederländer, wie wir etliche trafen, die (noch) nicht gehört zu haben schienen, dass die Niederländer jetzt unfreundlich sein wollen, (fast) wie die großen Länder, um ihren humanen Ruf als letzte Rettung für die Gequälten der Erde endlich loszuwerden. Wir glaubten, wenigstens eine kurze Thematisierung schuldig zu sein: “Sie wundern sich sicher, dass wir als Deutsche…” “Vielleicht kommt Kohl ja auch bald!” sagten sie bloß und lachten und fuhren uns durch dieses weite, flache, ich hatte vorher nicht gewusst, wie schöne brabantische Land bis an den Schlagbaum am Ende einer kurzen Abzweigung mit dem Hinweisschild INTAKE-CENTER.

Ausgestiegen, zwischen den Äckern, im Wind, in der Kälte des Wintertages, an der Klingel stehend, herrscht dort, wie van Gogh über seine Heimat sagt:

“een groote stilte”

Natürlich verblüfft über uns zwei Deutsche holten die ersten A.C. Leute nach ein, zwei kurzen Statements von uns, schon drinnen in einem Vorraum, zwei vom Justizministerium, die mehr zu sagen haben, und die uns nach ein paar Sätzen, (es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man sich woanders, wo nicht die deutsche Zensur in Staat und Medien über Kirche und die Kinder von deren Elite herrscht, dieses, wenn überhaupt, ewige breiige, obszöne Gerede, erst einmal vorstellen kann, was da alles passieren kann) fürs Wartezelt annahmen für die maximal möglichen drei Wochen bis zur harten Rückkehr in das wahre Rijsbergen in den anderen Gebäuden über dem Hof, für die Prozedur. Die zwei kennen ja die Verhältnisse bei der Asylbewerbung, aber, mögen sie denken, wie werden diese zwei Deutschen das aufnehmen? “Es ist ein Camp,” sagen sie nachdenklich zu mir, “es sind Zelte, wo Sie darauf warten, hierher zurückzukehren.”
Obgleich mein Sohn ja halber Australier ist, obgleich diese zwei nicht nur mich, was keine Kunst ist, sondern auch David um deutlich mehr als Haupteslänge überragen, obgleich unsere Kleidung, sehr höflich umschrieben, von der der zwei Beamten maximal differiert, man würde uns bald als “in Lumpen” bezeichnen können, sind diese zwei Niederländer und wir uns so überraschend ähnlich auf dem Hintergrund der Menschen hier von überall her.Wir sind eine hier exotische Vierergruppe nördlicher Menschen: Dieselbe Art, Seriosität zu signalisieren, zurückhaltend und doch nachdrücklich sich zu geben.
Auf dem Polizeipapier, das man uns aushändigt, steht, dass dessen Inhaber am 13. Februar, erneut in Rijsbergen, einen Asylantrag stellen können. Bis dahin sind wir eigentlich nichts. Holland bietet aber Essen an, Schlafen, im Notfall Arzt.
Ein paar Wochen später, in Amsterdam, wird Mamadou sagen, dass er schon an diesem ersten Nachmittag in Rijsbergen im Warteraum für Neuankömmlinge mit uns war, er weiß, wie ich das Informationsvideo lauter und auf Französisch gestellt habe.
Auch der fünfzehnjährige “Quoi” 3 war schon da mit uns, über den wir im Wartezelt in Elst lachen würden… “Je m’intéresse trop au football, quoi.” 4 über den holländischen Spieler Kl[ö]v[ää]rt…!: “ca c’est un impoli…!” 5 Über den von mir in Elst so getauften “Gottesmann” aus Zaire, der mir dort, als ich ihn eigentlich noch gar nicht richtig in den Blick bekommen habe, Mut zusprechen wird beim Essen- fassen, und der regelmässig Afrikaner um sich schart zu Gebet und Bibellesung, wird der Fußballer sagen: “c’est celui qui fait la prière, quoi.” 6Sein Urteil, summa summarum, über das Leben im Wartezelt in Elst, das manche schon als gefängnisartig bezeichnen, weil wir Rijsbergen II noch nicht kennen (o Henk! Was war das noch für ein Paradies bei Ihnen!!) wird sein: “Je suis contre, quoi.” 7
Zusammen mit u.a. einem muffeligen Aserbeidschaner, der in Elst 3 Wochen muffelig bleiben wird, besteigen wir am Abend des ersten Rijsbergen, nun wieder vor dem Schlagbaum, den Bus und fahren durch diese dunklen, unbekannten Lage Landen … und fahren und fahren. Nach zwei Stunden lächelt Mamadou mir schüchtern zu, auch er hat nach der dritten Kehrtwendung gemerkt, dass der Chauffeur sich verfahren hat.
Mein halbes Leben lang habe ich jedes Jahr ein, zwei, drei grosse Konferenzen über Flüchtlingsfragen gedolmetscht (eine davon in Holland) und doch erschien beim Wort “camp” vor meinem inneren Auge ein Zeltlager aus lauter kleinen Zelten. Also nie richtig die Beschreibungen realisiert: es sind grosse Zelte, für Hunderte von Personen, für 4oo im provisorisch in Elst hochgezogenen Camp, mit ihren Kojen, ihren Esssälen, ihren Waschräumen und dem riesigen Heizungsgebläse unter der Decke… wo wir Ankommenden eingewiesen werden: Kasimov, Aserbeidschan, Mamadou Tiam, Guinea, Weber, Duitsland… und die anderen…

 

In Elst

….das eiserne Tor, der hohe Maschendrahtzaun, Stacheldraht oben. Der Container, innen, direkt neben dem Eingang: Wachtposten? konnten sehr wohl das Bild eines bewachten Internierungslagers heraufrufen. Tatsächlich bin ich in der ersten Woche im Warte-Camp in Elst nicht darauf gekommen dass man raus gehen kann: man musste nur am Ausgang sein Polizeipapier vorlegen, sich eintragen lassen, ebenso bei der Rückkehr.

Wandelen hätte ich können im grossen Naturschutzgebiet direkt daneben in Richtung Rhenen oder in den klenen Arealen neben der Strasse nach Venendaal, dabei mir von allen Seiten ein Bild machen von der fast riesigen Ausdehnung des umzäunten Gebiets, hätte die übergrossen Warnschilder auf den Zäunen, an allen Seiten, sehen können, die mit dem Kopf eines Schäferhundes drohen: Gevaarlijk – nein, nein, nicht die Asylanten, hoffentlich hat das kein Ausflügler aus der Stadt Utrecht gedacht, die Elster selbst wussten ja wohl, dass das Schild immer da war, vor, während und inzwischen auch: nach.

Wandelend hätte ich besser die sinistren, die tristen zahlreichen Häuser auf dem Gelände gesehen, ich hätte mich vielleicht dezidierter als drinnen gefragt, was eigentlich drin ist in diesen Gebäuden. Okay, es sind Magazine in einem Militärlager, aber wofür? Nur ein niedriger, länglicher Schuppen beherbergt etwas von uns : Recreatie und Second-Hand-Shop vom Flüchtlingswerk. Im übrigen steht, was zu uns, wozu wir gehören: funktionale Bürocontainer, Rezeption, Direktor, Flüchtlingswerk, Facilities, Arzt u.Krankenschwestern, weiss und ephémer, wie auf einer Lichtung, wie auch die Zelte -extra umzäunt, zugänglich nur über die Strasse vom Eingang zum Ausgang – “Back to Germany?” spottet einer von zwei Palästinensern, als ich mit meinem Sohn dort gehe. “We are going to Israel”, gibt mein Sohn zurück Da muss der andere, im übrigen einer der sehr wenigen, die anderen nehmen es einfach hin, der sich nicht mehr eingekriegt hatte, dass wir, als rechtmäßige Inhaber des begehrten deutschen Passes in Holland Asyl suchen, wider Willen denn doch ein bisschen lachen. Aber draußen wandele ich noch lange nicht. Meine Welt ist das Zelt.

Meine Welt ist die Koje aus Sperrholz, mit ihren vier Betten (2 x 2), mit den Wegwerflaken, für die ich dankbar bin: zuletzt benutze ich sie als Badetuch. Mögen es in Ermelo Modderzelte gewesen sein (Groener Amsterdamer), ich werde dort beim Ausflug zur TB-Untersuchung eine Art Vorhänge vor Kojen sehen, die haben wir hier nicht. Der Eingang ist offen. Jederzeit kann nicht nur die winzige Ay in ihrem Mongolenwestchen hereintrippeln, deren Gesichtlein ich im Stress von Rijsbergen II entgleisen sehen würde, jederzeit kann ein Security binnen stehen, bei der Morgen-, der Abendpatrouille, zuweilen machen sie auch zwischendurch einen Rundgang zur allgemeinen Disziplinierung Try not to make a mess .
Aber es ist wahr, dass ich mich fast geborgen fühle in diesem Bett, wahrend in meinem
Zeltabschnitt für Familien und Frauen eine Frauenstimme, die ihr Töchterchen beruhigen will, bis tief in die Nacht intoniert: Sa – rah! Saa-raah! Saaa-raaah!
Wenn es ein Mädchen wird, hatte ich mir seinerzeit vorgenommen, soll es Esther oder Sarah heissen, gegen Ende der Schwangerschaft gewann Sarah ein wenig die Oberhand, ich besprach es brieflich mit dem Vater am anderen Ende der Welt, der wunderte sich ein wenig über meinen Hang zum Alten Testament, aber er war auch mit David für einen Sohn einverstanden , für diesen Sohn, der, nun erwachsen, seit Jahren entsetzlich teuer den Kontakt mit seinem“ verbotenen“ Vater, den verbotenen Kontakt, bezahlt: jetzt in einem Asylantenzelt in Elst, mitten in einem holländischen Militärlager.

Der Rhytmus im Zelt wird klar von den Mahlzeiten bestimmt, schon vor 8 kommen viele Männer aus dem vorderen, viele Frauen, Kinder und andere Männer aus dem hinteren Zelt in die Mitte, an den Waschräumen vorbei, wo sich schon welche beeilen, in den Esssaal. Wenn Schlag 8.30 die drei oder fünf vom Küchenpersonal hinter den Tresen treten, hat sich schon eine lange Schlange gebildet, die vor dem Tresen defiliert mit dem Tablett und unbedingt mit dem, was ich Esspapier nenne. Es hat Kästchen, für jede Mahlzeit eins ( bis zu den maximal möglichen drei Wochen), zuerst wird abgestempelt, dann Essen gefasst: die Minidöschen Margarine, Marmelade, zwei dünne Scheiben Käse in der Klarsichtpackung mit dem geheimnisvollen Aufdruck belegen, 4 kleine Scheiben Vollkornbrot, ein Becher Milch und für den Tag sechs Chips für den Kaffee-, Tee- Kakaoautomaten. “Tu peux toujours m’en demander,” sagt Usman zu David: “Ich hatte zuletzt in Mauretanien dermaßen wenig zu trinken, dass mir jetzt ein paar Schluck dreckiges Pfützenwasser genügen würden”. Ër könnte den gegenteiligen Schluss ziehen, dass er jetzt mehr Chips braucht, aber er begnügt sich mit dem Leitungswasser aus dem Waschraum und gibt Chips ab.

Das Leben im Zelt sind die anderen. Wer nichts mehr hat, hat aber Würde: niemand beschwert sich über die endlose Sa – rah ! Intonation, viele fragen: How are you? Thank you, fine. Bon appétit. Die Tür wird aufgehalten. Bitte nach Ihnen. Niemand überschwemmt andere sofort mit dem Schrecklichen, das er/sie hinter sich hat – das kommt erst, wenn man sich länger kennt.
Man sucht Anknüpfungspunkte für ein Gespräch: “Wir sind auch Arier”, schlägt eine Kurdin eine Brücke zu mir. Es ist nicht so leicht für mich, ihr auf Englisch klarzumachen, dass ich für die Brücke dankbar bin, aber dass das Wort “arisch” für Deutsche immer noch zwiespältig klingen kann. “Ich war zehn beim Spiel Marokko – Deutschland bei der WM 86 und durfte es nicht sehen, weil es bei uns mitten in der Nacht kam”, sagt mein Sohn. “Ïch habe es in der Schäferhütte im Transistor gehört, damals noch mit meinem Vater,” erinnert sich Usman.
“Wir können Deutsch zusammen sprechen”, schlägt die Vietnamesin vor, als wir beide beim Wäscheaufhängen ins Gespräch kommen, “ich habe in Ost-Berlin studiert.” Sie war noch nicht dort, als ich im Tränenbunker, Friedrichstrasse, um Mitternacht, bei Ablauf meines Tagesvisums Ost, immer angstvoller darauf warte, dass mein Pass aus der Rohrpost zurückkommt, ich aufgerufen werde, passieren kann, zurück nach West – und stattdessen lang nach Mitternacht allein immer noch dastehe, alle um mich herum konnten gehen. Der aus dem Hintergrund mit meinem Pass in der Hand auftaucht, hat mehr Abzeichen an der Uniform. Er geleitet mich in ein fensterloses Kabuff, wo ein weißer Kittel neben einem Waschbecken hängt! Wo ich auf einen Hocker, also ohne Lehne, zu sitzen komme, wo er mich befragt. Warum fehlt ein bestimmtes, drittes Zeichen auf meinem Passierschein von morgens, beim Eintritt in die Hauptstadt der DDR? Keine Ahnung, nicht ich bringe ja die Zeichen an, sondern seine Grenzbehörden.
Wir sprechen sehr lang. Die ganze Zeit denke ich, dass sie mich im Prinzip schon in der Hand hatten, als sie mich bis lang nach Mitternacht warten ließen, damit habe im Zweifelsfall ich die Geltungsfrist meines Tagesvisums überschritten. Wo ich war? Die ganze Zeit denke ich, wenn sie mir nun von früh an einen nachgeschickt haben, die Kennzeichnung auf meinem Eintrittspapier spricht eher dafür, aber ich entschließe mich, es darauf ankommen zu lassen: ich sage nicht, dass ich als Dolmetscherin, wie einige aus meiner katholischen, deutsch-französischen Tagung in West, auf Empfehlung des Tagungsleiters das elende Krankenhaus am Rand der Stadt besucht habe, wo vorwiegend Alte, Verwirrte, Unheilbare zum Gotterbarmen liegen. Das ist nicht verboten, aber wer weiß , welche Konsequenzen es aufruft für mich oder andere: dieses Gesicht will die (Hauptstadt der) DDR bestimmt nicht zeigen, schon gar nicht international.
Zum Glück kenne ich Ost-Berlin schon von anderen Besuchen und erzähle also als “Touristin” vom Wandeln unter den Linden, vom Operncafé. Er stellt natürlich Fangfragen, auch immer wieder sehr plötzlich die Frage, wo ich wohne. Das lässt mich an meine Eltern denken und stärkt mich sekundenlang. Tief in der Nacht kann ich gehen.

Unsere frappierende Gemeinsamkeit entdecken die Vietnamesin und ich erst in Rijsbergen: Wir sind beide buchstäblich unter amerikanischen Bomben geboren: ich in Bad Windsheim, Mittelfranken, gegen Weltkriegsende, sie in Ho-Chi-Minh-Stadt. Aus einem ganz anderen Grund als den anfliegenden Bombern hat die Hebamme meine Mutter beim Gebären zur Eile angetrieben in jener Gründonnerstagnacht: “Geschwind! Geschwind! damit’s kein Karfreitags-Kind wird!” Es war noch nicht Karfreitag, als meine Mutter mit mir, soeben geboren, in den Keller rannte. Bei ihr, in Vietnam, war es mitten in der Geburt, als die Bombardierung (wieder) einsetzte.

Der Stil, den die Regierung gegenüber dem Asylanten will, womit sie ihm d’emblée seinen Platz zeigt zwischen Asylbetrüger und Gast, in Elst, von der Mitte einer Skala aus gesehen, selten ein Strichelchen mehr hin zu Gast, in Rijsbergen II deutlich in Richtung (potentieller) Asylbetrüger, wird verkörpert vom Corps der „Veiligheid“, den Security . Die Security, in ihren ja eigentlich Phantasieuniformen, sind das Vremdelingenbeleid, nicht auf der hohen Ebene, wo es erdacht, nicht auf der Ebene, wo und wie Herr Cohen damals seine Durchführung befestigt hat, nicht einmal auf der Ebene einer hoheitlichen Polizei im demokratischen Rechtsstaat, sondern sehr terre à terre, wie es im Zelt von früh bis spät begegnet, rezipiert und in der Praxis ausgeführt von oft recht schlichten Gemütern, auch schon mal von solchen, die die Sau rauslassen wollen, weil man das bei den Flüchtlingen kann, die um jeden Preis bleiben wollen und sich deshalb alles gefallen lassen müssen.

Einmal ist ein Teil-Zaun entlang der Strasse zur Freiheit weit geöffnet. Gelegenheit, mal woanders hin zu spazieren, denke ich, wo sonst zu ist.
“Zurück” schreit der “Weiner” (mit der ewig weinerlichen Stimme, wie eine bestimmte Sorte unangenehmer Norddeutscher): “Verbodden toegang!” Der Weiner steht tief im verbotenen Land, wir haben erst einige Schritte in die Richtung gemacht. “Okay! – We go back!” Wir kehren um. Aber jetzt lässt er uns nicht mehr so einfach, er ruft uns wieder: “Where is your Politie-Dokument? Das kommt auf Ihr Polizeipapier! Dafür kriegen Sie Schwierigkeiten mit dem Asyl!” “Aber wir sind doch sofort umgekehrt, als Sie…”Später wird auf der Rückseite des Dokuments
stehen: “…wollen diskutieren… babbele excuses… auf verbotenem Terrain…” Ein Ehrenamtlicher des Flüchtlingswerks, der das liest, denn auch die im Second- Hand- Shop erhaltenen Kleidungsstücke werden auf der Rückseite des Polizeipapiers notiert, schreibt darunter:
“Deze mensen…wollten nur spazierengehen… s.v.p. negenen .”

Noch später wird das Papier in einem Regenguss total zerweicht. Ich bekomme eine schlichte Photokopie aus einem Ordner in der Rezeption, die ich, so wie sie ist, ohne Beglaubigung, ohne die Vermerke auf der Rückseite, die natürlich niemand überträgt, überall problemlos statt des Originals vorzeige, auch bei der Rückkehr nach Rijsbergen, wo es sehr offiziell zur Sache geht, und noch lange danach, in Amsterdam, in Utrecht… Das ist das Liebenswürdige an den Holländern.

Der Weiner schleppt uns zum Direktor. Das schnörkellose Kurzgespräch mit ihm verläuft so, dass der Weiner sich in Zukunft etwas zurückhält. Und es verschafft uns einigen Respekt vom Direktor für den Rest der drei Wochen.

Vorne, neben dem Kopf der Schlange vor der Essensausgabe, steht immer ein Security. Einer klappt nach jedem, der nachgerückt ist, vor dem Nächsten seinen Arm herunter, wie eine Barriere. Er verweist ihn in seine Schranken, grundlos, denn normalerweise stößt und schiebt niemand exzessiv. Die Wartezeit ist ein Drittel länger dadurch, dass man nicht flüssig durchgehen kann. Schlimmer aber ist die Demütigung, natürlich versteht jeder, dass der sich mit dieser Maßnahme bloß aufspielt, aber man kann nichts machen.

Einmal bin ich weit hinten in der Schlange, als irgendetwas stockt, irgendwas nicht stimmt. Vorn steht mein Sohn, eine gewisse stille Arroganz in der Haltung, der Security streng redend. Ich empfinde undeutlich dasselbe, wie der nette Zigeuner aus Kroatien, der hier via Zeitarbeitsfirma mit Essen austeilt, der sagt es mir später so: “Ich dachte, wenn Ihr Sohn dem jetzt eine haut, ist er fertig.” David war, mehr aus Zerstreutheit, durch, bevor die Armschranke niederging. Der Veilige hatte ihm “zur Strafe” befohlen, sich wieder ganz hinten anzustellen. Das war dem denn doch zu viel der Demütigung, er tat es nicht und blieb ruhig stehen. Ich gehe vorsichtshalber hin. “What happens?” “Go away,” sagt der Security kurz. Mir lief die Galle über. “Ich bleibe.” Und: “Hören Sie endlich auf damit! Sie wollen eine Bousculade beim Abstempeln verhindern (Na ja). Aber das muss nicht s o sein. Das macht das Warten und die ganze Mahlzeit eine Stunde länger (Na ja, so lang nicht, aber im Prinzip stimmt’s ). Niemand von Ihren Kollegen…” etc. Unter erstauntem, dann gespanntem Schweigen, dann hie und da einem diskreten Schmunzeln in der Schlange geht es eine Weile erregt hin und her. Der ältere VVV, der immer ein bisschen wie ein Grandseigneur im dunklen Anzug wirkt, sagt nichts, aber ich spüre doch, dass er ein bisschen für mich Partei ergreift. Schließlich gibt der andere nach, er macht es nie mehr.
“Wenn es doch ein Problem gibt, wegen Deiner Auseinandersetzung,”sagt der Zigeuner zu meinem Sohn, “bin ich Zeuge. Ich habe gesehen, dass du nichts gemacht hast.”
Er lebt eine der großen Scheidungen zwischen Menschen. Wer Schweres mitgemacht hat und durch ist, kann sich schwören, sich von nun an besonders anzupassen, um zu beweisen, dass er für immer auf die richtige Seite gehört: hinter den Tresen, wo das Essen ausgeteilt wird. Er ist auf der anderen Seite im Buch des Lebens und des Todes: solidarisch mit denen, die vor dem Tresen anstehen .“Ich weiß, wie das ist,” sagt er, “ich bin selbst als dreizehnjähriger Asylant nach Holland gekommen.” Wenn eben möglich, schiebt er den Kindern ein zweites Glas Milch hinterher beim Frühstück, ganze Händevoll zusätzlicher Getränkechips bringt er mit aus der Küche und bietet sie an, ihm verdanke ich, dass aus dem hart erkämpften 2-Liter- Karton Mineralwasser, einmal von der Krankenschwester verordnet, ein solcher für jeden Tag wird. Er nimmt den leeren Karton mit in die Küche, wo er als Beweis gilt, dass er durch einen vollen ersetzt werden darf. Aber Zeuge sein zu wollen an so einem empfindlichen Punkt des jeu institutionnel, wenn’s hart auf hart kommt womöglich den Job aufs Spiel setzen, geht einen grossen Schritt weiter auf dem Weg zur ultimen Scheidung zwischen Schafen und Böcken. Der Text hierüber wird zweifellos jeden Morgen von allen, die in Europa mit Asylpolitik zu tun haben, in Furcht und Zittern , auf Knien, meditiert:
“Ich war fremd, Ihr habt mich angenommen… Kommt , ihr Gesegneten…”(Danach sagte er zu denen zu seiner Linken): “Ich war fremd, ihr habt mich abgewiesen… Hinweg… in das ewige Feuer…”
Es wäre schwer, in dieser deutlichen Rede aus dem Grundlagenbuch dieser Zivilisation(und wer glaubhaft machen kann, dass er in Schwierigkeiten kam, weil er sich zu diesem Buch bekehrte, wo das verboten ist, hat immer noch gute Chancen auf Asyl), einen Jesuiten auf einer Dachterrasse vorkommen zu lassen. So spannt sich allein tröstlich van Goghs Sternenhimmel über unserem Zelt.

Meine Welt ist das Zelt, wo im ersten Eingangsflur aufgereiht sitzen, die zum Arzt wollen oder zur Krankenschwester, an denen man vorbeigeht, wenn man rein oder raus will.

“Komm Nasu-Basu,” sage ich manchmal zu der Kleinen von der Koje gegenüber, ich scherze mit einer selbstgereimten Abkürzung, weil ich mir ihren langen, afrikanischen Namen nicht merken kann, “wir gehen spazieren. Mama betet ”, wenn ich sehe, wie die ihr großes Tuch als Gebetsteppich auf den Boden ihrer Koje breitet.
Heute sitzen sie im Eingang, als ich vorbeikomme. Ich nehme auf Mamas Stuhl Platz, während die mir auf dem Gang einen kleinen Sketch vorspielt: Sie schreitet geziemend, mit züchtig niedergeschlagenen Augen, auf und ab, ihr Tuch fest ums Haupt: “Muslim woman.”Gelüpft das Tuch: “(But I) am young. (Want to) dance…” Sie schwingt die Arme im Rhythmus des schnelleren, wiegenden Gangs, schaut umher, lacht: “African woman”. Überhaupt leben die Afrikaner hier einen entspannten Islam, viele beten, niemand macht ein Aufhebens davon. Niemand hat besondere Angst vor einer Verletzung der Speisevorschriften, das Bild mit dem durchgestrichenen Schwein über dem Tresen zum Essen-Fassen genügt ihnen.
Und sie bleiben sehr afrikanisch sie selbst.

Mamadou geht in den Gängen umher als einer, der nur sehr langsam aus einem Albtraum erwacht und zu sich kommt. “Ich sehe ihm doch an,” sagt mein Sohn, “dass er massiv geschlagen worden ist.“

Dass Chirac mit der “großen Gemeinschaft der Francophonie” nicht mich meint, die ich dieser Sprache so ziemlich mein Leben gewidmet habe, habe ich in Frankreich gemerkt bei meinem letzten Aufenthalt, aber ich hatte, naiv, auch nicht daran gedacht, dass er hauptsächlich Regime damit meint, gern auch diktatorische. Ich war in Südfrankreich, als Chirac in Conakry ankam, als Mamadou mit anderen dort am Flughafen stand, sah im TV die Transparente, die sie hochhielten:“ Libérez les prisonniers!“ Sein Vater war im Gefängnis, vielleicht schon tot, und an diesem Tag wurde Mamadou selbst hineingeworfen Obwohl David fast lieber mit Usman spricht, ist unübersehbar: :Er und Mamadou sind sich in etwas schwer zu Beschreibenden ähnlich. Der erzählt sein Leben: “Mon père était un grand marabout du pays…” – Der Vater hatte, sehr ungewöhnlich in diesem Teil der Welt, nur eine Frau und mit ihr diesen einen Sohn. Die Mutter starb früh. Wir können uns das Leben der beiden Männer vorstellen. Wie der Marabout, der ja kein Iman ist, sondern Lehrer und weiser geistlicher Gelehrter, den Sohn in der Weisheit der Männer Afrikas aufzieht. Mamadou hat es viel sichtbarer als David, das “gewisse Etwas”, das die Söhne der (Hohe)priester kennzeichnet, von denen der eine jedoch als Sohn fast eine Notwendigkeit ist, der andere fast zu Tode gejagt wird .Erst hier, als Flüchtlinge, sind sie vereint. Alles an Mamadou, wie er redet, wie er sich gibt, atmet den Sohn des Marabout. Die Menschen strömen zum Marabout, fragen ihn,( vielleicht mehr auf genuin afrikanische, als auf islamische Weise), um Rat. Die Regierung sieht es mit scheelem Blick. Die Ratschläge könnten auch gegen das Regime sein. Der Vater wird abgeholt.

Zu Mamadou ins Gefängnis kommt ein Gefolgsmann der Regierung, der aber auch ein Freund des Marabout war. “ Du machst deutlich, dass du sehr krank bist,“ weist er Mamadou an, „ dann komme ich, als der, der dich ins Hospital bringt – ich bringe dich aber zum Flugzeug. Du musst weg, damit du nicht den Weg deines Vaters gehst.” So floh Mamadou.

Der (Pentecostal-)Gottesmann hält mir unvermittelt eine kleine Predigt.: “Vous ètes une mère, comme une vraie mère africaine.Vous l’avez, ce respect, qui est, pour nous, Africains, le fondement de tout…” 9 (Ach, wie lang wird es in der Welt noch von Belang sein, welche Werte ein Afrikaner, oder irgendwer, als grundlegend ansieht?) Von da an sagen alle Afrikaner, die Christen und die Moslems, nicht mehr Madame zu mir. Ich bin “Maman” für alle, wie ihre eigenen, nicht mehr ganz jungen, respektierten Afrikanerinnen.
Die Mutter von Christian, zu der sie eben auch “Maman” sagen, wie jetzt zu mir, ist in Zaire mit ihm, nie werde ich wissen, ob er ihr eigener Sohn ist, oder ein Junge, dessen sie sich angenommen hat, 40 Tage durch den Urwald marschiert, “une marche forcée”, sagt sie. Abends haben sie irgendwas gegessen, was sich in verlassenen Dörfern fand, noch in der Nacht, sehr müde, mussten sie wieder weiter. Kranke, Alte, solche, die einen Unfall hatten, Schwangere, manchmal Gebärende mit dem Neugeborenen, blieben auf der Strecke. Man musste sie einfach liegen lassen .Sie liefert mir eine komplette Analyse, in einer Viertelstunde, des Verhältnisses zwischen Erster und Dritter Welt, einschließlich der Methoden, wie in Afrika Kriege ausgelöst werden. Das ist ja das Elend: wenn das Elend nur konsequent genug ist, können sich die Elenden zuletzt – wie zum Hohn – nur zum Verursacher flüchten.

Christian ist sieben, denke ich. Nachdem ich ihn länger kenne: acht.
Die Kinder der Montessori-Schule in der Nähe haben Spielzeug für die Flüchtlingskinder gebastelt. Die dürfen sich in der Recreatie, dem Freizeit-Schuppen, etwas aussuchen. Christian spielt versunken mit seiner Marionette. Sehr, sehr langsam bewegt er immer wieder einzelne Glieder an den Fäden. “T‘aimes ca?” “Oui.” Ein Achtjähriger tief in seinem Spiel. Erst, als ich von unserer Reise zum Asyl-Anwalt ein kleines, grünes Weingummi-Krokodil mitbringe, werde ich stutzig, ob der, zwar diskreten, Reaktion der erwachsenen Afrikaner. “Ça se mange” 10, sage ich in eine leichte Verlegenheit hinein. “Ah bon, et merci.” Ist das nicht ein bisschen kindisch für einen 13jährigen? Aber sie sagen mir Christians Alter, taktvoll, erst bei einer anderen Gelegenheit. Als sie es sagen, sehe ich danach neu auf den Jungen. Was für ein Horror hat ihn mit Leib und Seele festgebannt im Alter von acht?

Die Ressortissants aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sind nicht ganz so freundschaftlich, wie viele andere und nur selten sieht man sie entspannt, während die Mehrzahl instinktiv dieses Zelt, diese Wartezeit, wo man nichts weiter von ihnen verlangt nach schlimmen Erlebnissen , nach dem Stress der Flucht, zum Kraft-Tanken nutzen wie zum zwanglosen Austausch. Die Aserbeidschaner, Ukrainer, Russen… hocken beisammen, scharfe Falten um den Mund, klagen und beraten. Sie besprechen anscheinend gezielter, als viele, wie man es macht, um angenommen zu werden. Nur direkt nach ihrer Ankunft setzen sie sich auch zu andern an den Tisch. Sie sprechen auch selten eine gemeinsame Sprache, bloß vergleichbar einigen Chinesen, die nur ein paar Brocken Englisch können, sind sie sprachlich abgeschieden.

Gerüchte kursieren, was man tun, was man lassen soll, was sagen, was besser nicht, um angenommen zu werden.Wer geflohen ist, weiß, was “der Punkt” war: er/sie konnte zu Hause nicht mehr leben. Das ist das Gemeinsame an jeglicher Verfolgung, formal politischer oder sogenannter wirtschaftlicher Art. So horrend der Unterschied ist zwischen einem, der eingesperrt und gefoltert wird und einem, dessen Krankheiten nicht behandelt werden, während er/sie langsam verhungert: am Ende steht immer der menschenunwürdige Tod. Aber man muss den Fluchtgrund so formulieren, dass er in die hiesigen Kategorien passt. Die Gerüchte wollen: Man soll sich etwas jünger machen (was nichts nützt, wenn es nicht unter 18 ist – bis jetzt); man soll verschweigen, wenn man es schon woanders versucht hat, in Frankreich, in Deutschland.
Der Junge aus Afghanistan, der so gut deutsch spricht, der das Mineralwasser, das ich ihm anbiete, sofort an eine afghanische Familie weitergibt, “weil die Kinder haben”, erzählt, wie er seinen Vater mit zertrümmertem Schädel, seine Mutter ermordet im Schlafzimmer vorfand, der ältere Bruder war verschwunden als er nach Hause zurückkehrte, der einzige von der Familie, der hatte wegrennen können, als die Taliban kamen. “Jetzt bin ich ganz allein,” sagt er traurig.. Er sieht aus wie in einem zu großen Mantel aus Schmerz, wie David, der, wenngleich er nicht das erlitten hatte, als er unter den ersten, schweren Hämmern als “Priestersohn” mit 16 zu Boden gegangen war, keiner der verwöhnten Europäer hielt ihn damals für so jung. Wird man dem Afghanen die 16 Jahre glauben? Ob er im Goethe-Institut zu Hause so gut deutsch gelernt hat, oder doch zuerst in Deutschland war: die Frage ist obszön auf dem Hintergrund seiner Geschichte. Überhaupt tut es weh, wenn hier Menschen das Abkommen von Schengen zu bedenken versuchen, denen der Name Schengen noch weniger sagt, als den meisten Europäern Ouagadougou.

Ich sage nicht, dass es die Niederlande allein sein können, die allen Zuflucht bieten, deren sich die großen Länder entledigen; aber an dem Druck, der dadurch entsteht, ist nicht der Asylant schuld.

Wer vielleicht weniger gelitten hat, darum oft auch mehr Kraft zum Entwickeln von Strategie und Taktik hatte, erzählt schon im Wartezelt seine Geschichte so, dass sie in die Kriterien passt. Der Palästinenser des “Back to Germany?” ist sehr schnell fort, der andere trägt ein Büchlein mit sich herum, man müsste Arabisch können, um die Aufschrift zu lesen. Sein Asylgrund: Bekehrung zum Protestantismus, darum inkompatibel in seiner Herkunftsgesellschaft. Ein Freund wohnt “zufällig” auf dem flachen Land in der Nähe, er ist “zufällig” auch Protestant, Sonntags vormittags holt er ihn mit dem Auto ab, sie fahren nach Venendaal in die Kirche. “No cross, no picture, no flowers…”( Oder war es vielleicht “only cross?“) erzählt er. Es ist eigentlich nichts drin in der calvinistischen Kirche, was einen Moslem schockieren könnte.

Manche Iraner sind nur kurz hier. Man sagt, dass sie so wenig wie möglich miteinander sprechen aus Angst vor Spionen des eigenen Regimes. Als es zweien von ihnen zu langweilig wird, verschwinden sie. Sie wissen schon, erzählt ein anderer, wo in Europa der Verwandte mit dem persischen Restaurant auf sie wartet, in dem sie viel arbeiten und viel verdienen werden. Aber der iranische Offizier, der, immer allein, nie außerhalb des Camps, herumgeht, bleibt, wie wir, die vollen drei Wochen bis Rijsbergen.

Gegen Ende unseres Aufenthalts in Elst kommen immer mehr “Deutsche”. Die das auch offen zugeben. Der Kroate spricht mich im Hof an: “Ich habe gehört, dass Sie Deutsche sind. Ich bin praktisch auch Deutscher, seit 30 Jahren in Berlin, von wo ich jetzt gehen musste.” Er ist besonders höflich, fast galant und voller Hoffnung, jetzt, da er es bis nach Holland ins Wartezelt geschafft hat. Ein paar Wochen später trifft ihn David in Amsterdam auf der Strasse, eine Dose Bier in der Hand, entsetzlich müde.. “Sie haben es geschafft, ihn innerhalb von ein paar Tagen zum klassischen Obdachlosen zu machen”, berichtet er. ( Freud: In der analen Phase identifiziert sich das Kind, in der Fixierung der Erwachsene, mit dem Abfallprodukt, das aus seinem Körper kommt. Alles Scheiße . Die anale Phase der Menschheit: Menschen müssen weggeschmissen werden, fortgespült.)

Der Sudanese ist auf die hibbelige, schwer erträgliche Weise nervös und gespannt, wie oft Jungen kurz vor der Pubertät. Er ist noch voll unter dem Schock. “Nach zwölf Jahren,” sagt er immer wieder. “Arbeit, Steuernzahlen und alles.” Und dann, das erste und einzige Mal, dass wir es erleben: “Deutsche und Asylbewerber?” fragte er sehr misstrauisch “Sie sind wohl eher von der Polizei?” “Sehe ich so aus?” frage ich zurück. “Solche sehen ja eben nicht so aus”. Jetzt bin ich doch froh, dass unsere Zeit hier abläuft, sonst hätte ich noch froh sein müssen über die Patrouillen der Security, wenn der seine Paranoia verbreitet hätte.

Bevor man seinen Namen checkt auf der Liste, die aushängt vorn links vor der Warteschlange zum Essen, hat man schon etliche Freunde zum Bus gebracht, der neben der Rezeption hält. Praktisch jeden Tag ertönt mehrmals die Stimme im Lautsprecher in den Zelten: “People who go to Rijsbergen or Zevenaar, please, come to the bus.”

Mit Hilfe einer Komplizin bei den Vrijwilligers im Second-Hand-Shop konnte ich im letzten Moment meiner Freundin von gegenüber einen Mantel besorgen. Sie hatte dort so viel für die Kinder geholt, dass die Rückseite des Polizeipapiers voll war, was als limit galt und hatte selbst nur eine Strickjacke zum Überziehen, keinen Mantel. Ich tausche meinen österreichischen Lodenmantel, auf dem Markt in Carcassonne vom Wühltisch gekauft, gegen eine blaukarierte Dreivierteljacke, in der ich verblüffend holländisch aussehe, trotz meiner 1,60. Ich sehe noch, wie eine Pakistani meinen Lodenmantel nimmt: ein Fall für Bölls Soziologie eines Lodenmantels, oder hier Geografie. Da ich nun eine Jacke habe statt eines Mantels, (man bekommt keinen Mantel , wenn man einen besitzt), kann ich einen Mantel… Beinahe wäre es schiefgegangen. Meine Freundin ist doppelt so umfangreich und bedeutend größer als ich. “Besser, Sie probieren ihn mal an,” sagt die andere Ehrenamtliche. An ihrem Blick sehe ich, dass sie sich ziemlich wundert : Habe ich so wenig Augenmaß? Der Mantel schlottert sehenswert an mir und um mich herum. “Der ist ja wirklich viel zu groß,” heuchle ich und muss ihn zurückhängen. Ich muss auf meine Komplizin warten, bei der ich einen prächtigen lila Kaschmirmantel kriege, den meine Freundin begeistert anzieht, 10 Minuten bevor ihr Bus geht.

Umarmungen, Winken, der Direktor steigt kurz zu und wünscht: Good luck, für diese Fracht schwer an Sorgen, Erinnerungen, Ängsten. Es ist ja eben kein literarischer Euphemismus, zu sagen: es geht für die meisten um Leben und Tod.
Auch wer klug das Wartezelt als Suspens nutzte, kann es sich jetzt nicht mehr verhehlen. Ich glaube nicht, dass es sich viele vorstellen können, wie es ist, da die Niederlande bei Ablehnung oft nicht brutal abschieben, in Obdachlosenstätten zu schlafen, hier Opvang genannt, hier meist von der Heilsarmee, oder in Bahnhöfen, die Einkaufszentren sind und vor Reichtum überquellen am Tag, wo nachts ein begrenzter Eingangsraum als Schlafplatz erlaubt ist für Weiße und immer mehr Braune und Schwarze, die tagsüber mit einem Rucksack umhergehen, in Bibliotheken sitzen, solange man sie läßt, oder immer an derselben Stelle neben dem Eingang zum Warenhaus stehen… in den humaneren Städten: Utrecht… In Amsterdam ist der Bahnhof nachts zu. Und davor, in der Eiseskälte im Februar, nachts um 3, wenn die schlimmste Zeit ist, können wir das “Drogen-Paar” sehen: einen schwarzen Dealer, fast zum Tier degradiert, alle Glieder ständig zuckend, schüttelnd, schlenkernd, die Arme fast bis zum Boden hängend. Vornüber gebeugt sucht er die Straßenbahngleise ab, verzweifelt hin und herlaufend, ratlos: offensichtlich ist ein Ingredient für die Spritze abhanden gekommen, die er in der Hand hält, das Mädchen, durchaus bürgerlich angezogen, eine Holländerin, tippe ich, jedenfalls eine Europäerin, weint und zittert auf der Bank im Wartehäuschen der Straßenbahn, sie erträgt das Warten auf die Droge nicht mehr, ihr Gesicht wird immer wahnsinniger, sie krümmt sich jetzt vor Schmerzen. Immer wieder läuft der Schwarze zu ihr, so etwas , wie :ich suche noch, ich komme ja, so etwas, wie ein entfernter Widerhall dessen, was ein Mann in einem anderen Aeon empfunden haben kann: den Wunsch, einem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Er fährt mit den Fingern in den Gleisen entlang, zuletzt – nein, ich weiß nicht, was eigentlich zuletzt geschah und immer wieder geschieht. 

In Rijsbergen II

“Ladies, get up!” – Licht an. “Get up,Ladies!” Rütteln am Etagenbett, an den nächsten Betten, wie sie durch die Reihen geht: “Good Morning – Get up!”

Im unteren Bett, fast ganz in den Kleidern, wie die meisten Frauen, die am Abend höchstens die lange Hose ausgezogen haben, den dicksten Pullover, ebbt der ohnehin seltsam flache Schlaf ab. Rijsbergen. Schlafsaal der Frauen.

Die Decke zusammenlegen, die Wegwerflaken zusammenknüllen, auf einen Haufen schmeißen, hier hat man kein festes Bett, heute abend lege ich neue Laken in ein anderes Bett. Le strict nécessaire : Seife, Zahnpasta, Zahnbürste, Kamm, ein Tütchen Shampoo, ein Wegwerfhandtuch, die Duschen sind gegenüber, es ist ungefähr 10 nach 7, die Duschen sind bis 8 offen, sehr frequentiert, aber eine ist jetzt frei. Kaffee aus dem Automaten, noch bevor im mittleren Teil der Warteräume der Schalter aufmacht, wo das Essen ausgeteilt wird, wofür man in drangvoller Enge und Discomfort ansteht: morgens wie abends kriegt man eine Doppelstulle in die Hand mit einem Apfel, die Männer sind aus ihrem Schlafsaal auf der anderen Seite gekommen; ich sehe von weitem meinen Sohn.

Manche setzen sich mit dem Brot gleich hier, in den zwei kleinen, mittleren Räumen, wo es Tische und Stühle gibt – sehr schnell sehr voll- ich fange an, ich zu sein nach zwei Bechern Kaffee aus dem Automaten, also ich gehe in den linken, länglichen Warteraum zurück, der sich bis vor die zwei Frauenschlafsäle erstreckt, wovor das Krankenzimmer, der Babyraum liegen. Die Duschen am Ende des Ganges sind schon zu. “Diese Holländer”, sagt mein Sohn, schon seit unserer Reise von Elst nach Alkmaar zum Anwalt, “schaffen es, letztlich fast nie etwas anderes zu bauen, als ein Schiff.” Ein Gebäude ist nur längs wie ein Schiff, wie jetzt dieses hier, oder wie ein Schiff nur von der Breitseite. Das hier ist ein sehr enges Schiff, in dem sich etwa 2oo Leute drängen, die Stress und Angst empfinden – und das soll auch so sein -, die sich zu einer unruhigen, ermüdenden Atmosphäre verdichten In diesem und dem Warteraum auf der anderen Seite zum Männerschlafsaal hin gibt es nichts anderes, als feststehende Plastikstühle, ein Bord dazwischen pro einander gegenüberstehender Reihe, wo man etwas abstellen kann. Die Stühle sind genau von der Art, die vor ungefähr 15 Jahren in Europa überall aufgestellt wurden, als ein paar europäische Selbstverständlichkeiten zu verschwinden begannen, alte Frauen, Mütter mit Kindern und Kranke plötzlich obdachlos sein konnten, als müsste es so sein, als gehörte es sich so, und die Kirchen langsam wieder eine gute Presse bekamen. Da verschwanden Bänke und bequemere Stühle aus den Bahnhöfen und Wartehäuschen, man brauchte kalte Plastikstühle, die hart voneinander abgegrenzt sind, damit Reisende kurze Zeit sitzen können, aber niemand, der dringend danach verlangt, sich mehr hinlegen kann.

In Rijsbergen sitzt, steht und geht man herum bis zum Abend. Es ist den Security überlassen, wann genau sie die Schlafräume aufschliessen, nie vor 21 Uhr, eher um 10.

Die berühmten achtundvierzig Stunden von Rijsbergen sind nicht, was man denkt. “Wir haben 48 Arbeitsstunden,” sagt der erste Interviewer zu meinem Sohn, “um zu beweisen, dass Ihr Asylbegehren unbegründet ist. Schaffen wir das nicht, werden Sie angenommen ”. David und ich sind also eine Arbeitswoche dort, von Montag bis Freitag, es ginge auch keinen Tag länger. Der Arzt aus Kosovo, der schon 5 Mal im Hafen von Vlissingen geschnappt wurde, von wo er nach England wollte, und für den die Administration hier Schritte unternimmt, damit er, wenn möglich, diesmal wirklich dorthin kann, ist einen Tag länger hier, als das vorgeschriebene Limit von 5 Tagen erlaubt. Er schläft im Gebetskämmerchen mit den Gebetsteppichen ein, von wo ihn ein indonesischer Security mit modisch blau gefärbten Augen herausholt: Schlafen darf er nicht in der Kammer, wo er betet.

“…Eine dieser Ängste”, sagt mein Sohn, “von denen die Leute aus dem Nahen Osten anscheinend umgetrieben werden: dass man den Status als voller Mensch nur aufrecht halten kann, wenn man sich in gewissen Situationen unbedingt wäscht…” (das Alte Testament z.B. ist voll von solchen Vorschriften, die das Mensch-sein-und-bleiben garantieren sollen)..
“We are not animals!” schreit der Algerier jetzt, nach dem Austeilen der Frühstücksstullen, nahe dem Essschalter. Es entsteht ein kleiner Tumult David hatte den Beginn des Konflikts am Vorabend miterlebt. Der Algerier hatte sich mit einem Security vor dem Männerschlafsaal angelegt. Er wollte unbedingt duschen. Aber duschen darf man nur zur festgelegten Zeit. Der Security hatte einen draufgelegt auf die Weigerung, um seine Macht zu demonstrieren. Der Streit war eskaliert. Man hatte dem Algerier gesagt, dass er gehen muss, nicht jetzt am Abend mehr, aber morgen.

“Ich will euer Asyl nicht mehr!” schreit der Algerier: “wenn es bei euch keine Menschenrechte gibt!” Er will aber unbedingt dem Flüchtlingswerk, das einen Schalter neben der Essensausgabe hat, der zwei Mal am Tag zwei Stunden geöffnet wird, berichten, was vorgefallen ist. Er ist schnell und gekonnt von Security umringt, unter ihnen auch ihr Chef, der sich sonst nicht hier aufhält und wird hinausgeleitet. Ich gehe, ziemlich aufgeregt, zum Flüchtlingswerk: “Der da hinausgebracht wurde, wollte unbedingt mit Ihnen reden. Das hat man ihn nicht gelassen… usw. Ich möchte doch, dass Sie das wissen”. “Ist gut”, sagt das Mädchen gleichmütig, das Dienst tut. “Ich sag’s meinem Boss”. Ein paar Wochen später wird es bei einem Anliegen, das uns nochmal vor die Schranke von Rijsbergen führt, hinein können wir dann nicht mehr, jemand vom Flüchtlingswerk muss herauskommen, eine der einmalig kalt wirkenden Frauen, die ich immer wieder einmal in Hilfsorganisationen arbeiten sah, sagen: “Wir zeigen konsequent low profile, um überhaupt etwas zu erreichen.”

Kurz nach diesem Tumult, als der Algerier weg ist, lerne ich den Security -Chef von nahem kennen: Ich sehe, dass ich es so hier nicht schaffen können werde. Vor der Flucht drei Jahre um “das letzte Grab Gottes” (Andrews und Schellenberger) herumgewandert, oft 30 km am Stück, zu Fuß, oft fast ohne zu essen, wie die Katharer auf der Flucht vor der Inquisition (wahrscheinlich teilweise auf denselben Wegen), in Stress und Angst die Route für ein Kunstwerk festzulegen versucht, Texte konzipiert, neu koordiniert, neue gemacht, Zusammenarbeit gesucht, zur Un-Person gemacht, als das Projekt konkreter wird. Ich gehe zu einem Security, der bei einer Glastür zur Schleuse zum Verwaltungstrakt herumsteht: “Ich muss mich mittags 2 Stunden hinlegen”, sage ich. “Das gibt es hier nicht”, verachtungsvoll. Es kommt mir absurd vor, alles in solchen Institutionen ist dazu gemacht, dass, wer die Rolle hat, nicht ganz Mensch zu sein, es selbst irgendwie irr findet, wie ein Mensch zu kämpfen, auf etwas zu bestehen, aber ich spiele, wie wenn ich schick und ausgeruht in einem Büro, zwischen Lunch und Kaffee, einen kleinen Job-Machtkampf auszufechten hätte: Ich mache ein betont ungerührtes Gesicht, sage kühl: “Haben Sie auch einen Chef?” Er spricht in sein Handy: “… will den Chef der Gefangenen (wörtlich!) sprechen…” Sagt er: “de Duitse?” Jedenfalls scheint der Chef es zu wissen, als er kommt “Es ist hier leider unmöglich,“ bedauernd. Ich insistiere. Das Herz. Ich will dem Infarkt lieber zuvorkommen. Dann muss ich zum Arzt. Er bringt mich durch die Schleuse in die stille Zone hinaus, wo die Entscheidungsträger sitzen. Ich erinnere mich weiter an Situationen und Zeiten aus einer anderen Welt, als Dolmetscherin, als Lehrerin, als Freundin…
Unterwürfigkeit ist nie gut für eine Sache, hier wäre das, stehend warten. Ich setze mich unaufgefordert in einen Sessel, der nicht für mich da steht. Ich sage es einfach auf Deutsch, als die Krankenschwester erscheint (das ist das letzte, was ich im Leben wollte, dass ich irgendeinen Vorteil davon habe, deutsch zu sein, oder zu sprechen, aber jetzt macht es Eindruck durch den Überraschungseffekt.) Ich erkläre, warum ich… Sie setzt erst an zu dem, was sie sagen soll, aber sie besteht dann doch nicht auf weiteren Bedingungen oder Unmöglichkeiten.

Das Krankenzimmer zwischen dem Warteraum links und dem Schlafsaal für Frauen ist offen. Theoretisch könnte man einfach hineingehen, sich hinlegen. Aber es wird mein Name an die Tafel neben der Tür geschrieben, nur unter der Bedingung darf ich drin sein. Ich werde die zwei Stunden mittags dort meistens nur mit einer schwangeren Araberin teilen. Es ist noch gut Platz. Als ich das Gesichtlein der kleinen Ay in ihrem Mongolenwestchen immer mehr entgleisen sehe im Stress – in Elst war sie das ausgeglichenste Ein/ Zweijährige, das ich je gesehen habe – und ihre Mutter im ständigen Geräuschpegel, Herumtragen, Kommen, Gehen, Sitzen, am Ende ihrer Kraft ist, versuche ich ihr auf Englisch zu raten, sich ins Krankenzimmer einweisen zu lassen. Dort könnte sie Ay mit auf ihr Bett legen und beide immer ein paar Stunden ruhen (die schwangere Frau dort hat auch meist ihr Dreijähriges bei sich). Aber sie gibt zu verstehen, dass sie doch versuchen will, auszuhalten, sie will nicht auffallen durch Extras, nichts gefährden.

Für ein paar Stunden am Tag gibt es eine private Kinderstube mit Helferinnen, von einer Stiftung, ganz am Ende der allgemeinen Räume, etwas weg vom Stress. Dort kann aber der kräftige, mongoloide, schwarze Jugendliche kaum hin, der mit seiner Mutter und noch einer Frau aus derselben Familie aus Deutschland abgeschoben wurde nach 12 Jahren, erzählt mir die Frau, trotz aller Gutachten über die Krankheit des Jungen. Er läuft herum in den Warteräumen, wo er die allgemeine Stimmung auffängt und austeilt. Er ist es, der ohne Vorwarnung, ohne direkten Anlass, mit voller Wucht dem Security auf einen Fuß stampft, der vorhin einem anderen auf die Frage: Kann ich eine Cola haben? geantwortet hat: Einen Tritt in den Arsch kannst du haben.
Bei der ersten Gelegenheit sage ich einer sehr höflichen, gepflegten Mitarbeiterin der Polizei – viele der Frauen, die hier die “besseren” Jobs und Funktionen haben, sind etwas overdressed für die Arbeit und ein wenig zu stark geschminkt, sie schminken sich gegen das Elend an – , dass es unerträglich ist, den jungen Mongoloiden tagelang in dem geballten Stress herumlaufen zu sehen. Kurz danach ist er verschwunden. Hoffentlich habe ich nicht seine und seiner Mutter schnelle Abschiebung befördert.

Einige aus Elst, die vor uns hierher gekommen sind, kann man begrüßen. Wir sehen, wie der Intellektuelle , ein Afrikaner aus dem ehemaligen Belgisch-Kongo, der haargenau das Outfit zeigt wie der Typ des französischen Intellektuellen vor 30/40 Jahren, zu dem begehrten Ausgang gehen darf, der zum Bus führt, mit dem die Auserwählten ins O.C. fahren – wie auch Gott sei Dank Maman mit dem dreizehnjährigen Christian. Der mit der perfekten Legende begrüßt meinen Sohn hier weniger als Freund, als in Elst, wahrscheinlich hat er gemerkt, dass der inzwischen gemerkt hat. Natürlich sehen wir ihn auch ins O.C. abgehen.
Akali – “J‘aime trop le foot – quoi”, geht schnell ins O.C. , eindeutig minderjährig. Ein schätzungsweise 30-jähriger, der konsequent behauptet , unter 18 zu sein, und dabei lacht, wenn er hier unten bei uns ist, es ist der, der auch in einem lustig schwäbisch durchsetzten Deutsch (er war lang in Stuttgart), sagt: “Man muss lügen. Europäer lügen auch immer, ” ist nicht unsympathisch. Wenn uns aber seine launige Unterhaltung zu viel wird, schicken wir ihn unter einem Vorwand zum “bayrischen Serben”, einem, der wirkt, wie aus der K.u.K. Monarchie, ein verwickeltes Schicksal hat, voller Härte, in dessen Verlauf er auch einmal Kellner in Straubing war, daher das “bayrische”, der zu Tode erschrickt, als er von weitem einen Polizisten sieht, der Handschellen am Gürtel trägt. Anstand und Humor strahlt .er bei alledem aus. Jetzt droht er uns lächelnd von weitem mit der gefalteten Zeitung, die das Flüchtlingswerk austeilt, als der “Jugendliche” bei ihm ankommt. “Also du – “ redet er den“ Unter-Achtzehnjährigen“ abends im Männerschlafsaal an, wie der sich unter seine Decke verkriecht:“ Das kann ich nicht verstehen, dass du schon so früh ins Bett gehst. Mit sechzehn ! Als ich sechzehn war, habe ich abends ganz andere Sachen gemacht…” und ist dabei so lustig, dass alle sehr lachen müssen, auch der blonde Iraker, der kein Wort versteht in dieser Sprache.

Über unser Leben hier sagt der “bayrische Serbe”, der schon einmal in einem Gefängnis war: “So schlimm wie hier war es dort nicht.”

Der KGB-Mann aus Lettland steht genauso da, wie ein KGB-Mann. Trenchcoat, ein blindes Auge, die Geste beim Umblättern seines Interview-Berichts lässt einem das Blut in den Adern gefrieren . Zum Glück ist es nicht mein Bericht, in einem Büro des KGB in Riga, zum Glück werde ich in Holland und nicht von ihm interviewt.
Aber da wir hier in einer anderen Konstellation sind, führen wir interessante Gespräche. Wir erörtern die spannende Frage, an der sich schon so viele vergeblich versucht haben, nach dem Verbleib des Weltwunders: des Bernsteinzimmers am Ende des letzten Weltkrieges. Ist es verladen und weggeschafft worden, vielleicht in Teilen? Ist es in den unterirdischen Gängen von Königsberg, (Kaliningrad) versteckt? Das behauptet er, der die Gänge, wie er sagt, sehr gut kennt. Plötzlich schießt seine Hand trocken vor, er packt einen Jungen, der zufällig gerade da läuft, hart am Kopf. “Why? Why ? Das tut doch weh!“ “He is curdish- I don’t like them.”

Auf unsere Unterhaltung waren wir gekommen, weil ich darauf, dass er aus Lettland ist, erzählt habe, dass mein Vater in Tilsit (Sowjetsk) geboren ist, etwa 150 km nordöstlich von Königsberg. Dass er das dem russischen Ehepaar erzählt, das mich in Elst konsequent übersehen hat, trägt mir eines von zwei grüßenden Kopfnicken der beiden ein. Sie kommen aus Kaliningrad/ Königsberg, so sind wir über meinen Vater sozusagen Nachbarn aus der Heimat. (Das zweite Mal grüßen sie mich, als ich ihnen einen holländischen Satz aus ihrem Interview-Bericht übersetzen soll in eine dafür ad-hoc erfundene Sprache, weit weg selbst von der Weltsprache Bad English , die sie kaum verstehen. Im Prinzip verstehe ich (noch) gar kein Holländisch, aber sie wissen, dass Holländisch und Deutsch, sagen wir, einander nicht völlig unähnlich sind.

Inzwischen lese ich hier Formulierungen, die auch viele Holländer erstaunlich finden. Getreu meinem künstlerischen und wohl auch persönlichen Hauptthema: Denken van Wie ons ontsnapt 11, wo die Sagbarkeit eines doch transzendenten Gottes diskutiert wird.
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Der KGB- Mann geht prompt ins O.C. Überhaupt begünstigt die Prozedur und ihre Umstände eben Leute mit guten Nerven, die mit den Härten umgehen können, manchmal, weil sie schon früher nicht am meisten gelitten haben. Der Gottesmann kommt zwei Tage nach uns an. Er ist
schon bei der Ankunft demoralisiert. Erst jetzt, da ich dies schreibe, glaube ich zu verstehen, warum. Die Eingangsformalitäten in Rijsbergen, die Fingerabdrücke, die genommen werden, usw. nehmen ihm brutal die Illusion, hier sei alles anders als in Frankreich, die er wohl in Elst genährt hat. Er und seine Frau waren nach Frankreich geflohen “wir haben doch Eure Kultur, Eure Sprache etc.” und waren sofort eingesperrt worden. Nur durch einen glücklichen Zufall konnten sie noch nach Holland. Getreu meiner Methode, mit der ich als Mädchen Französisch gelernt, später Asiat(inn)en in Deutsch unterrichtet habe, hatte ich in Elst, als er sagte, er wollte Holländisch lernen,( das war in der Recreatie, wo ich mich mit Hilfe alter Frauenzeitschriften einlas: Holländisch mit “Margriet” und “Libelle”), geraten, nicht mit dem Einfachsten zu beginnen, sondern mit dem, was ihn am leidenschaftlichsten interessiert. “Wenn Sie ihm eine holländische Bibel besorgen würden,” bat ich ein paar Ehrenamtliche in der
Recreatie. Das taten sie sehr gern. Daraus entstand weiterer Kontakt, der Gottesmann wurde mit seiner Gebetsgruppe eingeladen, in der protestantischen Kirche am Sonntag Abend afrikanische, christliche Lieder zu singen. Da war ich schon weg. Wie er jetzt in Rijsbergen ankommt, frage ich ihn danach. Er kann kaum antworten Wenn man das von einem Afrikaner sagen könnte das … Äquvaqlent von bleich…ist er, angstvoll gespannt. Seine Frau ist bei ihm, die Kinder aber sind zu Hause geblieben.. Hier ist man also auch eingesperrt. Und was kommt dann?

Zum strict nécessaire gehört in Rijsbergen kein Rasierzeug für die Männer. Das wirkt überraschend demoralisierend. Der Iraner ist so unrasiert kaum noch er selbst. Schließlich sehen wir ihn aber erleichtert ins O.C. gehen.

Wie in manchen Ländern der Gruß lautet, wenn zwei sich begegnen: Hast Du schon gegessen? heißt es hier: Warst du schon beim Interview? Die Antwort lautet: a) Nein; b) ich war beim ersten Interview, warte jetzt aufs zweite, c) ich war bei beiden, warte jetzt aufs Ergebnis. Das erste Interview befragt zu den persönlichen Daten, dem Werdegang und dem Weg, den der Flüchtling genommen hat, um hierher zu kommen: ein brisanter Teil der Befragung, sie nehmen es wirklich übel, wenn herauskommt, dass die Angaben, die einer gemacht hat, nicht stimmen, aber der Flüchtling, vage informiert, oft gerade der, bei dem der Kern der Verfolgung außer Zweifel steht und hier zur Anwendung käme, wagt es oft nicht, die Wahrheit zu sagen. “Ïls m‘ont montré des photographes de bateaux (es rührt mich, wenn ich daran denke, wie er so altmodisch das Wort photographes sprach) 12 erzählt Mamadou nach dem ersten Interview. Sie haben natürlich gemerkt, dass er nicht wirklich mit dem Schiff kam. Dass sein Vater Marabout war, haben sie kaum geglaubt, ihr Vater ist ja nicht Geistlicher, sie sehen es nicht wie wir, wie David, der selbst… Dass er im Gefängnis war und misshandelt wurde, glauben sie nicht. Sie haben ja nicht in Elst, in beobachteten und scheinbar unbeobachteten Momenten, mit ihm gelebt. Dazu kann man jetzt sehr leicht die Fingerabdrücke aus verschiedenen Ländern per Computer vergleichen. Wenn einer in Frankreich war, sei es nur sehr kurz, und es nicht mal zugibt…..

Sind Usmans schwangere Frau und seine Mutter vor seinen Augen getötet worden? Allein die Frage lässt mich erzittern. Es ist wahr, dass ich nicht Augenzeugin war. Ich habe aber gesehen, wie er, der, wie es die Männer lernen, öffentlich keine Träne weint, oft ein verheultes Gesicht hat, und dass ein Schrecken ihn überzieht, wenn Araber zur Sprache kommen. Marokkaner machen regelmäßig “Strafexpeditionen” in sein Gebiet in Mauretanien.

Es lässt schon an Science Fiction denken, was sich in diesem engen Flüchtlingsschiff Rijsbergen abspielt: als gäbe es bereits gezüchtet, geklont, verschiedene Gattungen Mensch. Wir hier unten, in primitiven Umständen, um unser Leben rennend in der Enge, im Lärm, gleichzeitig destrukturiert und reglementiert, schlecht angezogen in denselben Sachen Tag und Nacht, die Frauen selten geschminkt, die Männer unrasiert, man sieht nur unsere müden, gespannten Gesichter. Unter dem Druck reagieren manche… unerwartet. Hitler! schreit ein Afrikaner jedes Mal, wenn er uns sieht. Einer, der neu angekommen ist, geht auf mich zu und erklärt, dass er sich unter meinen Schutz stellt, dass ich nun seine Mutter bin in Termini, die an Marienlieder erinnern. Anders, als bei der liebenswürdigen Predigt des Gottesmannes in Elst weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Es wirkt ein wenig, wie wenn er mich für einen holländischen(?) Spitzel hält und sich deswegen vorsichtshalber schon mal mit mir verbündet. Zu uns hier unten in den gekachelten Räumen steigen die Wesen aus einer anderen Welt herab, sie halten ein Double der Rijsbergen-Kennkarte hoch, rufen Namen im Gewühl, lassen mich – für begrenzte Zeit und um zu beurteilen, ob ich Gnade finde nach der Prüfung von Herz und Nieren – die Treppe hinaufsteigen zum ersten Stock, in einen ruhigen, ganz normalen Büroflur, wo Namenschildchen an Türen sind, ein Photokopierer steht, es ein wenig nach Kaffee riecht. Meine erste Interviewerin lässt mich die Sprache wählen, wir führen ein langes, wie manche es nennen würden, “oberklassiges” Gespräch auf Französisch, ein Foto ihres Töchterchens steht eingerahmt auf einem Extra-Tischchen an der Wand.

Vor dem zweiten Interview muss jeder von einem Pflicht-Anwalt gerufen und beraten werden. So lernen wir fünf(!) holländische Anwälte kennen. So viele finden einen Vorwand zum Gespräch dank des Rufs unseres berühmten Asyl-Anwalts draußen, der, immer völlig überbucht, auf Fürsprache der Dame vom Flüchtlingswerk in Elst, unseren Besuch und dann uns zu vertreten akzeptiert hatte. Er sagte es so: “Defy the catholic church,” Aber er rechnete, mindestens zuerst, mit Ablehnung. Das ist nicht schockierend. An der 2000-jährigen Institution, die nun wirklich mit allen Wassern gewaschen ist, haben sich schon andere, in anderen Zeiträumen, die Zähne aus-
gebissen… Unser Anwalt hat schon die Berufung vorbereitet.

Meine zweite Interviewerin ist denn auch von Anfang an tendenziös, abgesehen davon, dass das Sujet sie erheblich überfordert, was ich nicht übel nehmen kann, was aber eher zur Bescheidenheit mahnen würde, statt zum wiederholten, aggressiven Ruf: Tot de essentie! Vom Dolmetscher immer wieder brav und leidenschaftslos mit: “Und nun zurück zum Wesentlichen,“ übersetzt, im Ton eines ultrabraven, deutschen Lehrers. Was soll ich sagen? Diese schicke, junge Dame., die die Gewichte und die Bezeichnung der Skalen vorbereitet, wiegen werden andere, die wir nicht sehen (Man beachte, wie wahnsinnig die Welt mit den Religionen der letzten 4ooo Jahre geworden ist, es kehren in dichten Situationen wie hier ständig alle mythologischen Themen auf einmal zurück, pêle-mêle, hier das ägyptische Totengericht) hat mich für eine Weile in die obere Welt geholt.- Es hat sich für mich gelohnt, wegen des einmaligen Satzes, den sie sprach: In welchem Augenblick (in Karlsruhe) hat Ihnen der Spion gesagt, dass er ein Spion ist?
Bevor ich am nächsten Morgen noch einmal zum Anwalt gerufen werde, hat Eric, ein baum langer Afrikaner, was häufig ebenso baumlange Holländer wahrscheinlich nicht sonderlich beeindruckt, dringend um ein Schmerzmittel gebeten und dass man ihn kurz dafür zum Arzt lässt. Das hatte der Türsteher-Security mit deftigen Worten und Gebärden abgeschmettert. Eric ist ausgerastet. Er schreit und schlägt um sich: “Vous nous prenez pour des c…, ici!” 13 etc. Der Vietnamese, Mann meiner vietnamesischen Freundin, versucht, mit anderen zusammen, ihn da wegzuziehen, während er, asiatisch beherrscht, in Richtung Security durch die zusammengebissenen Zähne murmelt: “There is no use to demonstrate power – we are powerless.” “I had already similar situations in my life,“ hat er meinem Sohn erzählt. Ich mache nochmal vom Mit-Europäer-Effekt Gebrauch. Ich spreche mit Eric: was ist? Dann sage ich zum Security: er braucht ernstlich ein Medikament. Eric geht zum Arzt. Das war das zweite Mal, denke ich. Sie werden das nicht auf sich sitzen lassen. Die Security werden sich verbünden, um mir eine Lehre zu erteilen.. Denn am zweiten Abend hier schon, als wir todmüde vor dem Frauenschlafsaal in den Stühlen hingen, kriegten wir anderen es zuerst kaum mit: die Frauen mit Kindern waren schon aufgefordert worden für den Mutter- Kind- Schlafsaal. …jetzt dringt nach und nach die Stimme und das Geräusch zusammen mit dem Gequengel der übermüdeten Kinder, dem Weinen, ins Bewusstsein: ”Nein – so nicht! Zurück! Noch einmal!”
Sie lässt sie regelrecht exerzieren, damit sie “in der richtigen Ordnung” in den Schlafsaal gehen. Beim dritten Mal überschwemmt mich eine wuchtige, rote Woge, ich bin nicht mehr ich, ich kenne mich nicht mehr, sonst hätte ich mich nicht getraut. (Ich) bahne mir einen Weg durch die Mütter-Kinder, höre mich brüllen: Sind Sie wahnsinnig? Sehen Sie nicht, dass die nicht mehr können? Wo ist Ihr Chef? Wir sind hier nicht im KZ!” Sie ist groß und dick (und recht hässlich, etwa ein Drittel der weiblichen Security sieht so aus, dass man versteht, warum sie sich betragen, wie sie sich betragen, wenn man sie lässt… so also kann eine Frau auch Macht ausüben). Sie stößt mich vor die Brust, dass ich taumle. Aber die anderen gehen jetzt in den Saal.
Am Morgen drauf zeigen die Frauen ihren Männern verstohlen: “Das ist die, die uns verteidigt hat.” Nachdem Eric zum Arzt geht, denke ich, ich soll vorsichtiger sein. Ich gehe auf den kleinen Gefängnishof Luft schnappen. ”Ich war in Deutschland in so einem Asyl-Prozedur-Center”, sagt mir dort ein Armenier. “Es ist erheblich schlimmer als hier. Einmal habe ich dort um ein Medikament gebeten. Dass der Sozialarbeiter (wie sie dort, wie zum Hohn, die nennen, die immer unten bei den Asylsuchenden sind), mich nicht erschlagen hat!… Sie als Deutsche müssen das doch alles hier ungeheuerlich finden.” ”Es ist doch ein Privileg,” antworte ich, “dass ich als Deutsche erleben darf, wie das wirklich ist.”
Er ist Bildhauer, keine Rede von der Kunst, sagt er, seit ich auf diesem Refugee-Trip bin. Wie ich, seit ich jenes Kunstwerk angefangen habe, sagt er sich von Jahr zu Jahr: wenn ich durch bin, konzentriere ich mich endlich wieder darauf.

Mein Sohn hat sich so gründlich, wie es hier möglich ist, in die Regeln vertieft , er versucht, auf Englisch, Französisch oder Deutsch, so konzentriert, wie es geht im Gewühl, anderen mit Diskussion und Nachfragen und Rat beizustehen. Als Mamadou abgelehnt wird, geht er mit ihm nochmal zu seinem Anwalt, was nicht vorgesehen ist.“ Il n’y a aucune chance. » sagt der indigniert. Mamadou weint. Wenigstens erreicht David, dass ein formaler Einspruch eingelegt wird, wenngleich auf persönlicher Basis, d. h. der Anwalt unterzeichnet nicht mit, d. h. das Flüchtlingswerk unterstützt Mamadou nicht. Er wird, wie alle Abgelehnten, schlicht vor die Tür gesetzt werden, in die flache, jetzt winterlich-eiskalte Landschaft, nicht weit vom Grab des erstgeborenen Van Gogh, der genau ein Jahr vor Vincent kam und gleich wieder ging.

Am Abend sehe ich das Gesicht, bereits unterdrückt schadenfroh. Sie hat sich schon vorab mit den männlichen Kollegen vom Dienst verbündet. Der, den ich immer ganz nett fand, den mein Sohn und ich “Kerkeling” nennen, weil er dem deutschen Humor-Entertainer so ähnlich sieht, Ländergrenzen sind ja keine genetischen Grenzen, der originale Kerkeling stammt bloß von der anderen Seite der Grenze (und hat glänzend Königin Beatrix imitiert, so, dass man dort, wo sie erwartet wurde, im ersten Moment drauf reinfiel. Diese übrigens, danach gefragt, hat dem Vernehmen nach geantwortet, dass das eine sehr professionelle Darstellung gewesen ist, die sie deswegen schätzt, wie alle gute Arbeit.), “Kerkeling ”also kommt überraschend heute Abend mit vor den Frauenschlafsaal. Ich habe inzwischen fast vergessen, woraus die provokatorische Substanz eigentlich bestand, es lief jedenfalls darauf hinaus, dass alle Frauen, mit und ohne Kinder, sich in einen Schlafsaal pferchen sollten. Als sie zögerten, als die ersten mich, die ich im Stuhl halb schlief und noch gar nichts mitgekriegt hatte, ansahen und ich fragte: Was ist los? trat Kerkeling in Aktion: “Unsere Deutsche natürlich!” rief er… “Sie haben ja neulich schon unserer Kollegin solche Schwierigkeiten gemacht… Und was Sie über die gesagt haben… so was machen unsere Kollegen nie usw.“ Ich will nicht, ich habe mir vorgenommen… Aber die Frauen weigern sich jetzt, in den Schlafsaal zu gehen.
Zuletzt werden sie gezwungen, es ist eng für alle, der Platz reicht nur zur Not. Kerkeling und das Mädchen gehen grinsend auf den Hof eine rauchen, um ihren Triumph auszukosten. Ich sage nichts, ich stelle mich bloß dazu, wogegen sie schlecht was machen können, ich will nicht, dass sie sich ungestört süffisant ihres “Sieges” über die Flüchtlinge freuen.
Zurück im Saal ist es zu spät für mich, eine Decke zu nehmen. Ich finde das einzige freie Bett oben, und da ich nicht oben schlafen kann, lege ich die Matratze auf den Boden und mich zum Schlafen zurecht, ohne Decke. Im Einschlafen sehe und spüre ich noch, wie die Vietnamesin ihr Laken auf mich legt, dann kommt eine Aserbeidschanerin, mit der ich noch nie geredet habe. Sie teilt jetzt eine Decke mit ihrer Tochter, die andere bringt sie und deckt mich zu.

Herr Suiker ist sehr in Ordnung. “Wir haben ein Netzwerk vom Flüchtlingswerk aus,” sagt er, “um die bis zur Verhandlung zu beherbergen, die Berufung eingelegt haben (In Amsterdam hingegen werden die invariablement zur Leger des Heils geschickt, von der man überdies weiß, dass sie fast immer überfüllt ist). Aber in Familien ist jetzt kein Platz frei, und bei den katholischen Schwestern wäre es für Sie wohl unpassend… Ich gebe Ihnen daher ein Minimum an Geld für eine Unterkunft..” Das löst später beim FW in Amsterdam blankes Entsetzen aus: Geld!!? Hat er uns gegeben!

Von nun an folgen wir wieder, ohne es zu ahnen, Vincent van Gogh. Herr Suiker fährt uns zum Bahnhof von Etten-Leur, wo Van Goghs Vater auch Dominee ( protestantischer Pastor) war, wo Vincent gezeichnet hat. Herr Suiker nimmt auf unsere Bitte auch den abgelehnten Mamadou mit, was nicht in den Regeln ist. Beim Umsteigen in Breda nehmen wir drei leichtsinnig vom wenigen Geld etwas weg und setzen uns ins Bahnhofscafé, wo wir uns wie Fremde fühlen, die, nach dem Aufenthalt in Rijsbergen in der Freiheit einen absoluten Kulturschock erleiden. Man kann also einfach so an so einem Tisch sitzen, Cola bestellen..

In der Bahnhofshalle springen uns zwei Russen entgegen, die schon ziemlich schlecht aussehen. Sie sind schon vor zwei Tagen abgelehnt worden. Sie wollen nach Den Haag, illegal arbeiten. Etwas eigenes Geld haben sie, verstehen aber nicht recht auf den Fahrplänen, wie sie nach Den Haag kommen, “Kasimov!” wie aus einem Mund in der Bahnhofshalle. Auch er ist abgelehnt worden. Scheinbar nicht so arm wie viele andere, mit gutem Gepäck, mit einem Papier aus Rijsbergen versehen, auf dem steht, dass er wahrscheinlich wirklich der ist, der zu sein er sagt, und dass er in den westlichen Ländern nicht arbeiten darf, will er durch Belgien nach Frankreich.

Wo wollen wir eigentlich hin? In Amsterdam sucht David die Guineanische Paroisse, die abgelehnten Guineanern drei Tage Aufenthalt in der christlichen Jugendherberge gibt, mittels eines Garantiebriefs. Wir bringen Mamadou dorthin. Warum sollen wir nicht auch hier übernachten?

Baarndesteeg, genau in dem Anwesen, wie ich später lesen werde, wo Vincent, als er noch Pfarrer werden wollte, bei einem geistlichen Onkel eine Weile das Latinum und Graecum vorzubereiten versuchte. Genau da wieder, wo Vincent…

Denken van wie ons ontsnapt.

 

Wiltrud Weber.

 

Anhang:

1) “Mir ist die Erinnerung an früher gekommen… wie wir manchmal in den letzten Februartagen mit Pa nach RIJSBERGEN gewandert sind usw., die Moorlerchen gehört haben über den schwarzen Äckern und dem jungen, grünen Korn, die glitzernde, blaue Luft mit weißen Wolken darüber- und den Steinweg mit den Buchen… O Jerusalem, Jerusalem! Oder lieber: O Zundert! O Zundert!”

2) “Sie sollten sich bei der Religion in Vergessenheit bringen…”

3) “Quoi”… Angewohnheit am Ende eines Satzes. Kann z. B. “eben” heißen, oder “So ist das nun mal.”

4) “Ich interessier’ mich nun mal zu sehr für Fußball.”

5) “Der ist ein Stoffel.”

6) “Das ist der, der betet.”

7) “Ich bin dagegen, alles in allem.”

8) “Du kannst mich immer um welche bitten…”

9) “Sie sind eine Mutter wie eine wahre afrikanische Mutter. Sie haben ihn, diesen Respekt, der für uns Afrikaner die Basis für alles ist…”

10) “Das kann man essen.”

11) etwa: Das Undenkbare denken

12) “Sie haben mir Photografien von Schiffen gezeigt…”

13) “Ihr haltet uns für A…”

14) “Es gibt nicht die geringste Chance…”

 

Vor St.Georgen und danach

Sitzstreik vor St. Georgen, Frankfurt, Aufbruch nach Frankreich, Beschreibung verschiedener dramatischer Situationen in unserer Geschichte.

Wie sie wieder mit dem Hund kamen, wie sie mich erspähten, während ich sie nicht kommen sah, weil ich auf dem Sprung war, noch schnell diagonal zurück durch die ziemlich von Menschen wimmelnde Halle zu den Waschräumen strebte, David sie aber sah, doch umso mehr Entschiedenheit zeigte, wie er da im Ausgang stand, bereit zum Aufbruch, wurden sie unsicher: mich hatten sie wohl erkannt, David aber musste nach Meinung gerade dieses Gespanns wohl auf jeden Fall im Gefängnis sein. Wir entsprachen so zu wenig ihrem internen Steckbrief; sie ließen ab – im allerletzten Moment, sagte David, wie ich ahnungslos und unbehelligt zurückkam. Nicht, dass ich mir hätte etwas zuschulden kommen lassen, nicht, dass jemand mir verboten hätte, im Flughafen einkaufen zu gehen, Kaffee zu trinken. Aber wenn die Securities einmal auf einen angesetzt sind, können sie machen, was sie wollen, das war wohl auch die Absicht der Polizistin gewesen.
Wir gingen die paar Schritte bis zu dem Auto, das wie vereinbart zu dieser Uhrzeit vor diesem Ausgang des Airports bereitstand; begrüßten den Fahrer, hievten die zwei Koffer: einen großen, einen so kleinen, dass selbst ich ihn tragen kann, vom Gepäckwagen in den Kofferraum und fuhren ab.
Auch in dieser vergangenen Nacht noch der Sitzstreik-Platz, vor der fast endlos erscheinenden Mauer, wir nahe dem geschlossenen Tor. Die Mauer hatte selbst im Sommer eine nicht besiegbare Kälte abgestrahlt; sehr frierend, zitternd, habe ich mich auf den großen Koffer gesetzt, war vor Erschöpfung immer wieder mehr weggekippt als eingeschlafen, während David fast gar nicht geschlafen, sondern Wache gestanden hatte – wie meistens.
Einige Stunden nach der Abfahrt, in der Raststätte, an Jeanne d’Arcs Geburtshaus in Domremy schon vorbei, an De Gaulles Colombey-les-deux-Eglises noch nicht, konnte ich meine Bestellung nicht zu Ende sprechen, aber man hatte schon verstanden: zwei große Becher Kaffee; einen au lait , ich bringe sie Ihnen an einen Tisch, sagte die Frau am Tresen freundlich, angesichts meiner erfolglosen Bemühungen, die für mich selbst unerwarteten Tränen zu unterdrücken.

Il y eut un soir Es ward Abend
Il y eut un matin Es ward Morgen
et Dieu vit und Gott sah,
que cela était bon dass es gut war

Vom Bett aus sehe ich beim Aufwachen, zuerst noch dunkel, beinahe den ganzen Ausschnitt des Fensters ausgefüllt mit Zweigen, die am Anfang über und über weiße Blüten trugen, jetzt sehr viele grüne Blättchen. Ganz langsam sehe ich den vollen Morgen kommen. Dann stehe ich auf, mache Kaffee in der Küche, backe ein pain au chocolat auf, ehrlich gesagt, öfter auch zwei. Ich frühstücke so, trete vor’s Haus, in den Garten, der Schnittlauch steht schon sehr schön hoch. Man muss die Fensterläden feststellen, sagt der Hausmeister, sonst schlagen die nachher hin und her. Il va y avoir de l’orage.( Es gibt ein Unwetter, oder Gewitter) Ich gehe die Läden bei uns feststellen und bin einstweilen im Frieden.

In der Nacht, als David festgenommen wurde, hatten wir uns eher zögerlich entschlossen, in der Kolonie zu schlafen, statt auf den Liegestühlen: R a i l and F l y, ein weiter, hoher Raum, sehr kalt, aber leidlich dunkel und still, wo, wer vor einigen Jahren vorbeikam, nach Schließung der Desks am späten Abend viele obdachlose Menschen zum Schlafen vorfand, daher nennen wir den Ort: Kolonie.
In dieser Nacht hat mein Instinkt versagt, zuerst, als ich um 2, es hängt dort eine große Uhr, der Blick geht fast automatisch dorthin, ohne ersichtlichen Grund abrupt aufwachte, warum? Einen Augenblick dachte ich, David zu wecken, der mir gegenüber schlief. Aber nur so auf ein Gefühl hin? Ich unterließ es. Nicht sehr lang danach rannte einer in einem martialisch anmutenden Overall schräg nach hinten. Thorsten, der Stuhlreihenrücken an Stuhlreihenrücken neben mir schlief, ging rasch weg. Das verwunderte mich mehr, als es mich erschreckte: warum steht der um 3 so eilig auf?
Thorsten, hat mir die Frau aus der Ex-DDR erzählt, schläft seit dem Tod seiner Mutter normalerweise im 24 Stunden geöffneten Spielcasino in der Stadt. Thorsten, der tagein, tagaus sehr ernst und diszipliniert und sauber alle Abfallbehälter im ganzen Flughafen abläuft, Flaschen sammelt. Den jagen sie jetzt auch, hat die Frau erzählt, alles ist schärfer geworden. Ich erzähle ihr, dass der Airport einen neuen Vorstandsvorsitzenden hat, kommentiere, dass heutzutage meistens das Menschliche schlimmer wird mit dem Nachrücken der nächsten Generation: die Jüngeren wissen nicht, warum sie in Dingen, wo es nicht direkt um’s Geld geht, Augenmaß walten lassen sollten, oder gegenüber Leuten, die sich sowieso nicht wehren können, egal, wie man sie behandelt. Wie bei Bruder Wendelin, sagt sie. Bruder Wendelin? Er hatte die Leitung des Obdachlosenfrühstücks in seinem Kloster, morgens um 7 Uhr. Bei Kälte hat er immer schon um 6 die Tür aufgemacht, da konnten sich die Menschen schon etwas aufwärmen, in den hinteren Bänken der Kirche auch ein bisschen schlafen. Bruder Wendelin ist gestorben. Der Nachfolger macht Punkt 7 auf. Wollen sich welche in den Kirchenbänken aufhalten, müssen sie mitmachen beim Gottesdienst: aufstehen,, niedersitzen, wieder aufstehen und alles.
In dieser Nacht hat mich selbst, dass Thorsten so rasch aufstand, entfloh, nicht aufgerüttelt. Obwohl es außerdem wahr ist, dass David im Moment eher abenteuerlich aussieht, mit seiner schwarzen Winterpopeline-Jacke, seiner sehr dunkelblauen, aber schwarz wirkenden Mütze, die ganz eng anliegt. Im Gefängnis werden die (als solche untadeligen) Kameraden ihn und den Versicherungsmann, der fast noch hanebüchener eingekerkert ist als er, schnell neidlos ausmachen: “Ihr zwei gehört ja nicht so richtig hierher…” “Aber,” meint einer lustig- bedenklich mit Blick auf David, während sie alle, mit Handschellen gefesselt, im Polizeiauto zu einem anderen Standort transportiert werden:” Mit d e r Mütze gehst du allerdings schon fast in die Richtung…” In einem Flughafen kommt aber alles auf ein unauffälliges Outfit an, will man nicht gefragt werden, ob man ein Ticket hat. Aber wieder will ich ich mich, mit Blick auf den fest Schlafenden, der selten ausgestreckt ruhen darf beim Sitzstreik, selbst einlullen.
Die Polizisten kommen laut zu dritt, um 4 Uhr. Warum dieses polternde Räuber- und Gendarm-Auftreten? Nachher hören wir aus ihren Gesprächen, dass sie anscheinend eine bestimmte, als kriminell geltende Person gesucht haben. Was wir hier machen? Als David schließlich wach ist, streckt er genervt dem Scharfmacher unter ihnen den Ausweis hin, das wäre vielleicht zu vermeiden gewesen. Der entfernt sich einige Schritte und „piept ihn an”. Zweiundfünfzig Jahre hatte ich gelebt, ohne diesen Ausdruck zu kennen, den Vorgang. Ich musste erst den Versuch machen,mich gegen die Kirche zu wehren, um den Staat näher kennenzulernen, in dem die Kirche, wie sie es sagen, die Werte vertritt.
Der Scharfmacher kommt länger nicht zurück, während wir schweigend dasitzen, die anderen Polizisten daneben stehen. Dann triumphierend: So, Herr … – Sie sind verhaftet! Jetzt hat er doch noch einen Schwerverbrecher gefasst: Haftbefehl wegen Erschleichung von Leistung.

Priesterkinder… es gibt sie nicht. Es darf sie nicht geben… wie auch der Moderator die Fernsehsendung einführte, wo wir sprachen, wo David heftig die Klingen kreuzte mit dem einzigen Bischof, der sich öffentlich zum Thema äußern darf, ja muss, alle anderen haben strikt einen Maulkorb. Hundertfach titeln Journalisten süffisant: Verbotene Kinder! Nicht alle sterben daran, dass die Kirche den Daumen gesenkt hat, aber doch viele mehr, als viele denken, nicht wenige schon im Mutterleib.
Mit vielen hundert Menschen am Sitzstreikplatz besprochen, immer wieder berichtet, kommentiert. Immer wieder gegen die Klischees angegangen, die Vorurteile. Auch die Beleidigungen einer drittklassigen Klientel ausgehalten, die auch in St. Georgen ein und aus ging: die Alte, die dazwischen schreit, wenn wir mit anderen reden:“ Der hat nichts gelernt! Der steht nur ‘rum!“ – Über David. Der von uns so genannte „Mit-und-ohne-Helm“ (auf dem Fahrrad mal so, mal so) mit dem verkniffenen Mund, zu mir, wutentbrannt: “ Lesen Sie lieber im Altersheim vor, dann tun Sie wenigstens was Nützliches!“ Und Schlimmeres. Erstaunlich auch die gut angezogenen, zurechtgemachten älteren Damen in teuren Autos, die am Sonntag zu den Jesuiten in die Messe fahren und ganz ordinär die Hand flach vor der Stirn hin- und herbewegen, das Zeichen für „bescheuert“. Man könnte allerlei Psychologisches, auch Psychoanalytisches, dazu sagen, oder einfach dies: Den Knochen, den man ihm hingeschmissen hat, gibt der Hund nicht freiwillig wieder her. Dass es eine Gruppe gibt, von der einmal gesagt worden ist, dass man einfach dumm, bösartig, frech von oben herab oder sonstwas sein darf, sie auch leichter übervorteilen kann als andere, wenn es einen ankommt, damit haben Katholiken den besten Teil erwählt. Der soll ihnen nicht genommen werden.
Willst du ihn eigentlich taufen lassen? hatte meine Mutter gefragt, als David einige Monate alt war. Damals habe ich nachdenklich geantwortet: Ich kann ihn doch nicht zu einem Masochisten machen wollen, der zu einer Gemeinschaft gehören soll, die ihm alles wegnehmen will. Da kannte ich unsere eigene Geschichte noch gar nicht wirklich, ich ahnte nur einiges. Heute würde ich es bündiger sagen: Ein wahnsinnig gemachter und ein ausgeraubter Elternteil sind genug. So etwas soll man um Gottes Willen nicht fortsetzen wollen.
Ausgeraubt wurde ich nach der Formel: Eine Frau bekommt das Kind, eine andere, die wir bestimmen, dessen Geld.
Auch ohne die Diskussionen, die Appelle: Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, schwule Menschen zu verachten, wenn ich sie überhaupt als solche wahrgenommen hätte. Es ist aber wahr, dass, wenn in einer autoritär-hierarchischen Organisation wie der katholischen Kirche der strukturell schwule Aspekt überhand nimmt, die das Sagen haben, Heterosexualität gnadenlos abstrafen.Genitale Beziehung ist in dieser analen Phase der Menschheit wahrscheinlich unbewusst assoziiert mit dem unvermeidlichen Gang zur Toilette und, wenn nicht durch ein Papier legitimiert, mit dem unziemlichen Sich-Entleeren ausserhalb dieser. Was ist dann das Kind? Abfall, dessen man sich schämt. Mag einer aus ihrem vemeintlich frommen Männerbund, sogar von dessen Spitze, wie Peter, der den Orden in Australien geleitet hatte, international ziemlich hoch angesehen war, immer mal mit Frauen… wir sind alle Sünder. Aber eine Frau lieben,als wäre sie von Belang und mit ihr neues Leben zeugen! Die Sünde aller Sünden.
Ich habe sie verraten, dafür haben sie mich nicht allzu hart abgestraft, wird Peter 20 Jahre später zu seinem Sohn sagen, da ist er schon völlig entleert in einer in Adelaide freundlich- honorigen, bei uns entsetzlich starren Hülle, du kannst also nicht anders, sagten sie damals zu Peter. Dass du eine junge Frau heiraten wolltest und mit ihr einen Sohn gezeugt hast, wollen wir jetzt vergessen. Aber du wirst machen, was du nicht lassen kannst mit einer ehrbaren älteren Witwe, bei der und ihren vier Kindern du wohnen wirst… und schlafen. Du wirst sie heiraten.
Peter, auch Jurist, das war er schon, bevor er bei den Jesuiten eintrat, unterschrieb alles, was man ihm vorlegte, als er fertig war, auch, was gegen die Gesetze ist, in Australien, in Deutschland: die klassische, schwere Unterhaltshinterziehung: Geld wird weggeschafft, umverteilt zum Zweck, es der berechtigten Person vorzuenthalten – durchgeführt mit Hilfe von Gehirnwäsche, die ist schon geschehen von langer Hand und muss nur aktiviert werden, und Zwangsverheiratung: Alles, was er noch verdienen würde, als Kanzleichef, als Dozent an der School of Law, zuletzt als Professor dort, wurde so verrechnet, dass es gerade für die Dienste der Witwe reichte. Er wurde pro forma aus dem Orden entlassen, das ist der relativ neueste Trick der katholischen Kirche, behaupten zu können, sie wisse von nichts, der Betreffende sei doch “ draußen”, während sie ihn nicht aus den Augen lässt. „Es geht ihm nicht allzu schlecht”, hat mir O’COLLINS, ein anderer australischer Jesuit,zu der Zeit Dekan an der Gregoriana, Jahre später widerwillig gesagt. Derselbe übrigens, der mir sagte: ” Sie werden nicht herauskriegen, was Sie herauskriegen wollen,” und als er ahnte, , dass ich das öffentlich sagen werde, sagte er: “Die Welt wird es nicht wissen wollen!” Die 18.000 Dollar waren sofort mit weg. Peters Mutter hatte den Betrag auf eine Weise festgelegt, dass er nicht an ihn heran konnte, solange er offiziell Jesuit war, sonst wäre ja alles, wie üblich, dem Orden zugefallen. Vielleicht hatte sie an Enkel gedacht, wenn er doch einmal aus dem Orden… also auch direkt Davids Geld. Peter und ich hatten einmal überlegt, dass die Summe eine gute kleine Hilfe wäre für den Anfang. Aber das materielle Zeichen für das Sakrament des Betrugs ist stets kompaktes Geld. Also her damit!
Unmittelbar danach waren noch Reste der Person da: ein Aufwallen, als er mir in Panik schrieb: I am married… four children… I have no money. Eine ältere australische Hausfrau als Aufpasserin, schlich er sich doch noch 4 Jahre nach Antritt der Buße heimlich zum deutschen Konsulat, um seine Vaterschaft amtlich zu machen, in einem Dokument, aus dem der lebenslange Jesuit verschwunden war, als hätte er nie exisitert, statt seiner ein alter Ehemann auftaucht, Rentner… arm. Er schrieb dazu einen enorm depressiven Brief: wenigstens das bin ich euch schuldig… Auch schickte er 1000 Dollar mit, so kommentiert: Verwandte hatten ihm 1.000 Dollar zur ganz persönlichen Verwendung geschenkt. Den Sinn dieser Präzisierung habe ich damals erst nicht verstanden. Er hatte bindend versprochen, nie verdientes, ererbtes …Geld dem eigenen Kind zu geben.
Die wollten uns töten. Die konnten ja wohl nicht wissen, dass ich ursprünglich nicht aus der Hauptsekte war, also gar nicht, Gott sei Dank, als es entscheidend im Leben darauf ankam. Tief drin in der Hauptsekte, umgeben von Eltern und Verwandten, die zu ihr gehört hätten, hätte ich mit dem Baby vor Schock sterben können. Statt dessen haben wir uns ” Leistung erschlichen”: das Leben. Nicht ohne Sorgen, denn so ein Raub bleibt nicht ohne Folgen, aber doch fröhlich und zufrieden miteinander bis –

“Verabschieden Sie sich”, befiehlt der Wortführer in der Kolonie.” Ich komme mit”, entgegne ich. Die kleine Prozession zieht durch die nächtlich stillen Hallen, zu einer der fünfundzwanzig Wachen im Airport, wie mir der ältere Polizist , der mit mir den Schluss bildet, stolz auf die Anzahl, erzählt.Nur ein paar türkische Putzer blicken verwundert auf und nach.
„Das machen wir hier,” erklären wir denen auf der Wache. „Wir stehen im Prinzip Tag und Nacht vor der Jesuitenhochschule und protestieren gegen den Internationalen Orden. Wenn wir zwischendurch zu erschöpft sind, schlafen wir im Hotel, da das natürlich zu teuer wäre, würdeman es immer machen , auch im Flughafen.” „Eigentlich geht es nur darum;” hat David dieser Tage trocken mit Blick auf das Jesuitenhaus gesagt: „kriege ich die zuerst, oder kriegen die mich zuerst.” „Wir haben da natürlich einen mächtigen, hartgesottenen Gegner,” erklären wir den Polizisten auf der Wache. Das ist nicht so einfach. Wie Sie sehen, waren wir nicht schnell genug. “ David ist sehr ernst und ruhig. Wir wissen ja aus jahrelangem Erleben, – und wie oft beinahe Sterben! – dass Kirche immer wieder das Lamm Gottes auswählen muss, dem sie ihre Widersprüche, ihre Lügen aufbürden können, und wie das auch mit Hilfe des „weltlichen Arms“ gemacht wird wie eh und je beim Rauben, Foltern und Brennen, jetzt nur auf modern-angepasste Art. Wer kennt noch Soeur Sourire, die „lächelnde junge Nonne“, die in den sechziger Jahren auf dem Musikmarkt erschien und einige Hits landete, besonders “Dominique”, das sogar zeitweilig in der Hit-Liste über den Beatles stand, eine zeitlang auf jedem Sender, auf Platten und in vieler Munde war
Dominique, Dominique s’en allait tout simplement…
Geht so fröhlich durch die Welt zu Fuss und ohne Geld
Und er sang an jedem Ort Immer wieder Gottes Wort…
Sie muss ihrem Dominikanerinnen-Kloster riesige Summen verdient haben, nach Schätzungen 2,5 Millionen. Alle Rechte, auch auf ihren Künstlernamen, den sie selbst albern fand, kamen dem Kloster zu. Im Gefolge verschiedener äußerer und innerer Auseinandersetzungen verließ sie ihr Kloster und lebte dann zusammen mit ihrer Freundin aus Studienzeiten. Ihr Erfolg mit weiteren Platten war gering, aber sie konnte einigermaßen leben, bis der belgische Fiskus horrende Steuernachforderungen an sie richtete;es war der Orden der Millionen verdient hatte, aber sie, jetzt als Privatperson, sollte nun die enormen Steuern für ihre Erfolge zahlen. … Unter dem steigenden, gnadenlosen Druck des Staates wussten die beiden Frauen keinen Ausweg mehr, sie nahmen sich gemeinsam das Leben.
Davids und meine Haltung machen sichtlich Eindruck auf die Männer. (Nicht jeder ist so primitiv wie der später Hinzukommende aus dem Stadtteil neben unserem Aktionsplatz, wo es einige nette und gute Leute gibt und wie es aussieht überdurchschnittlich viele Tumbe. Der redet etwas zu dem Kollegen neben ihm, worauf der laut in den Raum sagt: „Auch die Priester haben dicke Eier“.) Als der Wortführer von draußen wieder anhebt, zu David: „Haben Sie Geld bei sich? Wieviel? In der Jacke da?“, und sich dahin bewegt, und ich widerspreche: „Das ist bloß ein Taschengeld, das gehört auch mir. Damit gehe ich jetzt erstmal Kaffee kaufen für meinen Sohn und mich. Wir sind ja vorhin aus dem Schlaf gerissen worden.”, erhebt niemand Einwände. “Und wie komme Ich hier wieder rein?” ” Ich begleite Sie,” sagt die Polizistin, die bis jetzt stumm dabeigestanden hat.
Dafür hat Gott mich zu einer Dichterin gemacht, auch als Dolmetscherin gehörte das immer mal dazu, dass ich manchmal das Schweigen lesen kann. Nachdem sie und ich abgeklärt haben, dass der McDo im Terminal 2, der die ganze Nacht auf hat, zu weit ist, gehen die Polizistin und ich ohne ein weiteres Wort in ihrem tobenden Schweigen nebeneinander hinunter in einen teureren Kaffeeladen, wo ich zwei Kaffee bestelle, einen kleinen Scherz des Verkäufers darüber, dass ich sage: einen mit Milch, das kann ich selber machen mit den Milchdöschen daneben, erwidere, wie wenn nichts wäre, zwei pains au chocolat dazu kaufe, dann steigen wir wieder zur Wache hinauf, während unter ihrer Stummheit der Sturm die Grundfesten umtost… die Wut… aber noch nicht an ihnen rüttelt.
Worum handelt es sich hier? Fünf Mal „schwarz” mit der Straßenbahn gefahren, in Düsseldorf vor fünf Jahren, macht 1.050 Euro, sofort zu begleichen, oder abzusitzen.
Nicht zufällig im Moment ,als es anfing, dass es immer mehr krass Arme gab, ist „Schwarzfahren” von der Ordnungswidrigkeit zur Straftat avanciert. Auch der Arme, gerade er, sie, muss ja in den großen Städten unbedingt manchmal zu einem Ziel, wohin er/sie nicht zu Fuß gehen kann, auch wenn vielleicht gerade nicht mehr als 73 cent noch in dem Plastikschälchen in der Küche sind. Erwischt, ohne Ticket, gar mehrmals, führt die S c h u l d, um das Hundertfache majoriert, wie hier bei David, in den S c h u l d t u r m, das war durch die Jahrhunderte so und nach dem relativ glücklichen Intervall von ein paar Jahrzehnten bringt der gegenwärtige humane Niedergang Europas das Schlimmste aus den Jahrhunderten wieder empor.
Zehn oder dreißig oder fünfzig Euro, berechnet nach seinem geschätzten Durchschnittseinkommen, sitzt der Gefangene pro Tag ab von der Strafe, der Ärmste, dessen Wert auf nur zehn pro Tag geschätzt wird, also drei- oder fünf Mal so lang wie die anderen, das hat noch keine Lobby moniert. Wer irgend kann, wird versuchen, mit den sehr begrenzten Möglichkeiten der Kommunikation im Gefängnis das restliche Geld aufzutreiben: Verwandte, Freunde, Bekannte, noch ein Rest eigenes Geld irgendwo? Wer nichts und niemanden mehr hat, der bleibt im Gefängnis, nach den Worten im Neuen Testament: bis er denn alles bezahlt habe. Lang bleiben ist außerdem riskant, da sie sich mit einem gewissen Realismus sagen, dass so einer wahrscheinlich noch öfter wohin fahren musste, als im Moment bekannt ist, suchen sie vielleicht, legen Gefundenes drauf. Dann erachten sie meist die direkte Präsenz eines Richters als unnötig , den ganzen Rest vom rechtsstaatlichen Brimborium, denn hier greift Grund für die U-Haft: ließe man die Leute laufen, bestünde Fluchtgefahr. Nicht jeder reagiert ja verzweifelt-lakonisch, wie der, der erzählt, dass er ihnen letztes Mal auf ihr Schreiben geantwortet hat: Ein- für allemal: ich habe das Geld nicht! Sperrt mich in Gottes Namen wieder ein! So können „Schwarzfahrer” jahrelang im „Knast” bleiben. Zu schön ist dieses Schuldturm-System, mit dem man den Armen aus dem Verkehr ziehen kann.

„Meine Aufgabe ist es hauptsächlich erst einmal, Leute in den Knast zu bringen,” hat die junge Staatsanwältin damals gesagt, verärgert über unser Ansinnen, nach dem Verbleib unserer Akte zu forschen, die einmal im richtigen Augenblick weg war, auch, damit nicht die Richtigen in den Knast kämen, womit erneut deutlich wurde, was schon vor langer Zeit eingefädelt war: unsere Klage gegen den Jesuitenorden langsam so zu drehen, dass irgendwann der “Richtige” in den Knast käme, David selbst.
David geht in den Schuldturm mit hinter dem Rücken gefesselten Händen.

“Wo seid ihr denn verfolgt?” fragt hämisch der eigentlich nette Gastgeber, nachdem er lang genug bearbeitet, rumgedreht worden ist. Das zum Beispiel, mein Lieber, ist Verfolgung: wenn dich ein halb wahnsinnig Gemachter auf Befehl einer mächtigen Organisation, die sich um nichts schert, ausraubt und du Klage beim Staatsanwalt führst, auf die hin nichts geschieht, höchstens wirst du verhöhnt,du dann doch versuchst, zu überleben in gnadenloser Härte und dabei manchmal kein Ticket kaufen kannst , dafür fünf Jahre später festgenommen wirst, auf Betreiben genau derselben Staatsanwaltschaft,die deine Anzeige in den Keller geschafft hat, während du genau vor der Institution protestierst, die schuld ist: das ist Verfolgung.

Wir staunen über die Fotos, die Zeitungsartikel, die in dieser französischen Stadt hier über viele Jahre sorgfältig aufbewahrt worden sind. Wie ich das Seminar dolmetschte, wie David im Hof daneben Fußball gespielt hat, für mich ohne Anstrengung zu sehen von meiner Simultankabine aus. Er spielte quasi die ganze WM nach, die kurz davor stattgefunden hatte. In den Pausen gingen die Männer vom Seminar zu ihm hinaus und spielten mit. Wie soll man mit so einem Kleinen richtig Fußball spielen? Er durfte Torwart sein „wie Dino Zoff”, und sie bemühten sich, zum Tor hin ziemlich sacht zu schießen. Die Zeitungsartikel und Fotos vom Empfang im Rathaus zeigen, dass er sich selbst dort nicht von seinem Ball getrennt hat… während mir immer wieder für meine Arbeit gedankt wird. Das alles hat während des Alptraums unseres Lebens ganz unschuldig hier gelegen.

Der ganze Betrug begann durch Kontakt zu implodieren, zu explodieren, als David 13 war, und hat eine Kettenreaktion ausgelöst, die bis heute nicht gestoppt werden konnte. Zuerst zahlte David seelisch, sozial, so hatte ihn die Hauptsekte doch noch eingeholt, mit der er null zu tun hatte, haben will. Ich zahlte finanziell. “ Tu das nicht,“ sagte Peter am Telefon zu mir. “Es bringt nichts, zu klagen, das Geld habe ich nicht. Aber ich will alles tun, was ich kann.“ Wir vereinbarten, etwas Geld schicken, und dass er David nach Australien in die Schule einladen würde als Teil seiner Unterhaltsverpflichtungen. Alles was Peter nun in einem sehr schuldbewussten Rest normalen Menschseins anfing – nein, nein, kaum in einem Gefühl von Schuld wegen seines Verrats, seiner Versäumnisse gegenüber dem eigenen Sohn, das war ein anderes – von weither, das war ihm aus dem Gehirn gewaschen worden, er hätte ihm keinen Namen mehr geben können, etwas von da her, wo Gott den Menschen als Mann und Frau und Vater und Mutter geschaffen hat, aber seine Organisation stellt sich zwischen Mensch und Gott. Er fühlte sich schuldig, weil er nun versuchte, sich wie ein Mensch zu verhalten: etwas Unterhalt zahlen wollte, David in die Schule nach Australien einlud, seine Reise zu uns, Davids Reisen zu ihm… Jedes Mal wurde Peter weggetaucht, genau beobachtet, mit einer geheimen Telefonnummer versehen, das Verhalten schritt fort zu einer kriminellen Betrügerei, und da er nun so viel weiter auf dem Weg zum zerstörten Katholiken vorangeschritten war, als zur Zeit seiner Vaterschaftsanerkennung, konnten ihm selbst seine persönlichen, von Verwandten geschenkten, 1.000 Dollar abgenommen werden, die er im Brief David mit vielen angstvollen Erläuterungen versprochen hatte; dieses Geld sei nicht verdient, nicht ererbt, wirklich nur sein persönliches… Auch dieser Erpressung hielt er nicht stand, das Geld war weg, als er kam, der von mir vorgestreckte Preis für sein Flugticket zu uns auch. Man hatte ihm ja eingehämmert,dass es sein Kind nicht geben durfte, hatte ihn ja schwören lassen, niemals dem eigenen Kind etwas zukommen zu lassen. Alles habe ich bezahlt. Ich zahlte und zahlte, bis ich nicht mehr konnte.
Die ganze Zeit während Peter an der Universität Adelaide unterrichtete, galt er in Rom offiziell als ” krank”. Ob man seiner Hausfrau das so gesagt hat: wenn du merkst, dass er wieder mit der Mutter seines Kindes und seinem Sohn Kontakt sucht, verständige uns: dann bricht seine Krankheit offensichtlich wieder aus. Als der Generalsekretär des Jesuitenordens noch eine kleine Hoffnung hatte, das alles los zu werden, schlug er vor, direkt mit den Australiern seines Ordens Kontakt aufzunehmen. Das tat David. Der Provinzial war beim ersten Wortim Bilde über die aktuelle Situation. Man muss es sich vorstellen: Peter hatte David in der High School in seiner Nähe angemeldet, ihm da ein Zimmer genommen, dann hätte er 40 Dollar in Australien für die Krankenversicherung hinterlegen müssen. Die kamen und kamen nicht. Einmal schellte, durch die Zeitverschiebung nachts, als David wartete, das Telefon, 2 Mal, dann legte jemand dort auf. David verzweifelte.
Der Generalsekretär des Jesuiten-Ordens war erst mit 16 katholisch geworden, etwa im selben Alter wie ich. Das heißt, dass v o r h e r etwas grundgelegt ist, ein scheinbar unscharfes Wissen, was man machen kann und was nicht, auch Anstand genannt, auch ein Wissen, womit man rechnen muss und womit normalerweise nicht, wenn man sich nicht gerade in ein kriminelles Milieu begibt. Darauf beruht ja eigentlich das menschliche Zusammenleben , das ja nicht ständig nach Sondervorschriften und juristischen Klauseln guckt. Und dieses Basiswissen verbindet sich bei solchen, die nicht in diesem System geboren sind, nicht früh mit den Interessen der Priester, mit denen die Kirche Menschen erziehen, aber auch knebeln will. Der Generalsekretär hat das vielleicht nicht vergessen, und er sieht es bei mir. Einen, der nicht heiraten wollen darf, deshalb mit einer fremden Alten verheiraten, deren Aufgabe es ist, seinem Kind Unterhalt und Erbe zu stehlen, solcher Abartigkeit gegenüber ist man sehr im Nachteil, wenn man nicht aus ihrer Mitte stammt; es dauert sehr lang, bis man sie sich überhaupt vorstellen kann.”Ich hätte nicht…” sagt Z.,” ich hätte gesagt, Sie beide sollen heiraten”. Er schlägt nach einigem zähen Ringen, es ist wahr! seinem höchsten Leitungsgremium in Rom vor, Davids gesamten Unterhalt von 0 bis 16 en bloc zu zahlen, um wenigstens die Schäden, die jetzt entstanden sind, zu kompensieren. Die Jesuitenkurie lehnte ab.
Wovon man zum Beispiel auch gewusst hätte, dass man es nicht machen kann, hätte man einen Rest menschlichen Fühlens gehabt, ist auch dieses (was die japanische Konvertitin in meinem Alter, die hier studiert, eine durchaus konventionellere Frau als ich es bin, mit mir erschauern lässt, als ich es ihr erzähle): Die Mutter des Kindes eines ziemlich prominenten Jesuiten, der an der Hochschule lebte und lehrte, wohnte, ich zeige es mit dem Finger: dort, praktisch schräg gegenüber dem Jesuitenhaus. Sie haben sie, wie üblich, das „Schweigepapier” unterschreiben lassen: monatlich eine kleine Zahlung; wenn sie irgendwo den Vater nennt, wird die Zahlung sofort eingestellt. „Bei uns”, erzählt die Frau, die damals das Restaurant mit ihrem Mann betrieb, das auch nur ein paar Häuser weiter ist, „haben sie sich gegenüber gesessen und sich hypnotisiert”, da war sie noch Studentin, und der Jesuit. „Die Frau hat immer mehr dichtgemacht,” erzählt ein netter ehemaliger Nachbar von ihr”, zuletzt konnte man sie nicht mal mehr so etwas fragen, wie ob das Fahrrad im Hausflur ihres ist und ob man es ein Stück weiterschieben darf, weil man etwas durch tragen muss.” Sie verstummte immer mehr.Sie kam in die Psychiatrie, als der Junge 13 war.
Es wäre grundlegende Untersuchungen wert, was eigentlich geschehen ist bei den angeblich nicht so selten seelisch kranken Müttern von Priesterkindern und den Kindern von Priestern selbst. Wahrscheinlich zeigten sie im Gegenteil nur normale Reaktionen angesichts des Irrsinns der Kirchenleute.

Nachdem die Jesuitenkurie sich wahrscheinlich gesagt hatte, dass es nicht ihre Aufgabe wäre, intelligent im Sinn des Ordens eingefädelten Betrug wiedergutzumachen, erstattete ich Strafanzeige gegen den Internationalen Orden.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf reagierte mit der Anwendung der Katholischen Scharia:(Bekanntlich bestimmt die islamische Scharia,dass eine Frau allein ein Vergehen nicht bezeugen kann) Wenn eine Frau, die ein Kind „von“ einem Ordensmann „hat“, sich dazu versteigt, gegen den Orden Klage führen zu wollen, werden wir den Teufel tun, überhaupt hinzusehen, worum es sich angeblich genau handelt. Sie redet Unsinn per Definition. „Nichts machen“ schrieb ein Vorgesetzter später in die Akte.
Ihr behauptet vielleicht irgendeinen Formfehler? Nicht richtig personalisiert den Internationalen Orden? Allez! Muss man Juristin sein, um sich von der Kirche betrügen lassen zu dürfen? Ich kann mir schon gut vorstellen, dass niemand Lust hat, sich mit der Spitze eines mächtigen Männerbundes anzulegen, zumal solche Compagnonnages, in der Regel aufgebaut wie eine Pyramide, zur Spitze hin immer hermetischer werden. Schlimmer noch: oft ragt die Spitze in die Basis einer darüberstehenden Pyramide hinein, die im Prinzip erst einmal unbekannt ist. Da ist es schon leichter und schöner den Klageführer, den eigenen Bürger fertigmachen zu lassen und, wenn möglich, zu kriminalisieren. Aber wenn es je eine Chance gab, durch vielleicht die bloße Ankündigung von Ermittlungen eine Entschädigung von einer Organisation der katholischen Kirche zu erhalten, dann in diesem Moment. Es war noch der Generalsekretär im Amt, der uns wenigstens die Summe geben hatte wollen, wie beschrieben, wir saßen offiziell und gut toleriert mit vielen Besuchern und Diskussionen vor dem Verfassungsgericht mit Wissen der Präsidentin; selbst der beamtete Direktor des Gerichts, der sich uns als „praktizierender Katholik“ vorgestellt hatte, ließ durchblicken, dass er es gern gehabt hätte, dass „Rom zahlt und Schluss“. Wir kündigten an, öffentlich einen Beginn einer Verfassungsklage „hinein“ zu geben, vereinfacht des Inhalts: es muss möglich sein, gegen einen katholischen Orden zu ermitteln.
Die in Düsseldorf bestellte Akte mit unserer Klage kam nicht an bei der Kriminalpolizei in Karlsruhe, wie vereinbart, „Rom“ zahlte nicht, man sah dem Direktor an, dass er sich immer mehr ärgerte und überlegte, wie er uns loswerden könnte. Am Tag, als wir ihn Stockschirm schwingend zum Freiluft-Schach schreiten sahen, ein Stück links hinter unserem Aktionsplatz im selben kleinen Park gegenüber dem Gericht, einige Schachzüge machen und beschwingt zurückkommen, sagte ich zu David: Jetzt ist ihm gekommen, wie er es machen muss. Nicht lang danach mussten wir weg. Zwei, drei Tage danach kam der UNO-Beauftragte für Religionsangelegenheiten zu Besuch zum Gericht und konnte sich überzeugen, dass alles in Ordnung ist mit der Religion und ihrem Verhältnis zu den Bürgern in Deutschland.
Es gab auch durch die Jahrhunderte immer eine Verfolgung der Juden, selbst außerhalb, „unterhalb“ des Schlimmsten, Unvergleichbaren, die sich immer wieder „bewährt“ hatte, um ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen: das war auch bei uns die Reaktion, die wir zum Abschied von Karlsruhe und später immer mal wieder auch erfuhren: Du beklagst dich, dass man dein Haus niedergebrannt hat? Tja, schade, aber das kommt eben vor gegenüber deinesgleichen “ Ich habe grosse Angst, dass ich mein Haus verliere!” der Aufschrei einer Mutter eines Priesterkindes in den Vereinigten Staaten auf der Website childrenofpriests. Nur David hat ihr geschrieben, wie leid es ihm tut, und dass er zu weit weg ist und selbst mit seiner Mutter immer wieder wie ein Gejagter lebt. Niemand sonst sagte ein Wort.
„Du insistierst?!” gaben sie uns zu verstehen. -” Jetzt hau ab, sonst können wir auch noch anders.“ Die haben uns praktisch auf Wunsch der katholischen Kirche vogelfrei erklärt.

Zuerst hat uns die Jugendherberge Montagne Verte in Straßburg von Mitte November bis Weihnachten 1997 auf die Fürsprache der Leiterin des Maison des Associations umsonst beherbergt und dann folgte, was auch der genannten Gruppe immer wieder abverlangt wurde: zahlen und immer wieder zahlen, das Recht auf Leben bezahlen. Gott sei Dank schickte die Schwester meiner Mutter sehr lange Zeit immer wieder Geld, natürlich ging das nicht in rauhen Mengen, aber meistens war es für den Moment die dringend notwendige Hilfe.
Wenn Kirche einmal gar nicht anders kann, als etwas zuzugeben, wie jetzt beim Missbrauch, versucht sie, den Blick auf die Opfer engzuführen, sie will den Opfern die oft lebenslänglich an katastrophalen Folgen leiden, angeblich „helfen“, was diese noch einmal beleidigt. Nicht selten gelingt es Kirche, sich, im Verlauf solcher Rumrederei, selbst zu bemitleiden. ” Wenn das alles herauskommt, sagte der Kardinal , der mir ansonsten immer sympathisch war, über die Missbrauchsskandale, “erschüttert es die deutsche Kirche”. Es erschüttert aber vor allem die Opfer. Ein Jesuit, der so jesuitisch war, wie man es ihnen früher nachsagte, die schlimme Sache so drehte, dass er einen Triumph gerade daraus machte, dass man, eher notgedrungen, tatsächlich die schlimmsten Übergriffe zugab, schaffte es, sich öffentlich aufzuregen, wie viel Geld man von ihnen wollte! Armer Orden! Aber eine chaotisch gemachte , schwer belastete Situation ruft auch ganz unerwartete Folgen hervor, denn unverfolgte Menschen wittern da Belastungen, die sie nutzen können. David arbeitete später in der Cité von Carcassonne als Fremdenführer in Deutsch und Englisch, sehr gern, sehr viel und sehr gut. Am Anfang hatte er seinen Pass nicht da, so etwas ist in Frankreich, wo derÖffentliche Dienst so überhandgenommen hat, dass Formalitäten immer mehr zum einzig wichtigen werden, er musste eine Zwangspause einlegen, um seinen erneuerten Pass zu holen… usw.usw. Bei den von ihm geführten Gruppen waren dann auch israelische Ex-Generäle. Als aus Israel angerufen wurde, dass man beim nächsten Besuch mit einer Gruppe auf jeden Fall wieder David als Führer haben wollte, wurde er gekündigt. Das geht zu weit, dass so ein Hergelaufener hier so prominent wird. Das ist allerdings noch eines der harmloseren Beispiele für das, was alles geschehen kann, wenn Menschen spüren, dass einer n in seinem eigenen Land nicht zu seinem Recht kommt, nah am Abgrund lebt.
Dieselbe Staatsanwaltschaft in Düsseldorf, die „Nichts machen“ vorschrieb, die Akte mit der Strafanzeige in den Keller absacken ließ, als sie aus Karlsruhe zurückkam, wo sie erst eintrudelte, oder jedenfalls vorher nicht herausgegeben wurde, nachdem man es geschafft hatte, uns wegzuschicken, später eine junge Staatsanwältin ein paar Beleidigungen hinzufügen ließ, forschte jahrelang mit großem Aufwand nach David, wie nach einem gemeingefährlichen Verbrecher, auch in Holland, wo sie eine Adresse hatten, weil dahin die verärgerte Staatsanwältin einen Brief geschickt hatte, mit der Botschaft: was ihr klagt, lesen wir nicht, wir sagen einfach irgendwas, und Du, David, kommst mir verdächtig vor. (Aber so sind die Holländer nun auch wieder nicht, dass sie mitgeholfen hätten, nach einem zu fahnden, der schon einmal bei ihnen um Asyl hatte bitten müssen) und erließ Haftbefehl, nachdem dem rechtsstaatlichen Rest angeblich Genüge getan war, dass er gesehen hätte, was gegen ihn vorlag in einem Studentenwohnheim, wo er von einem Kommilitonen für eine Woche ein Zimmer untergemietet hatte, vor längerer Zeit, und der Portier keinen Überblick hatte, wer alles im Haus wohnte, mithin das Schreiben fälschlich nicht zurückkgehen ließ. David war allerdings keineswegs dort, denn er stand da schon längst vor der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt, um unter Einsatz seines – und meines – Lebens einmal mehr zu versuchen, selbst den Verursacher dazu zu bringen, solche Verbrechen wie „Schwarzfahren“ im Gefolge einer wahnsinnigen Situation aufgrund eines echten Verbrechens zu bezahlen.”Ob sie in Düsseldorf ein Fläschchen Sekt aufgemacht haben als sie gegen David etwas gefunden hatten?” fragten wir Anwälte, die wir kennen. Das wollten wir alle nicht ausschliessen.

Sofort am Morgen nach Davids Verhaftung rufe ich unseren besten Freund an. Im Allgemeinen müssen wir damit rechnen, dass Freunde, oder solche die es werden wollen, nach einer Zeit abspringen: Schon das Zusehen macht verrückt in dieser Geschichte, bei diesemTabu- Thema. Dieser aber, der einmal den schönen Satz sagt: Ich will wenigstens der Stuhl sein, wo ihr euch ab und zu anlehnen könnt, ist gleich zur Stelle. David konnte jemanden benachrichtigen lassen aus dem Gefängnis und gab ihn an. Ich rufe ihn von einer Telefonsäule an der S-Bahn-Haltestelle Stadion an, im Schneesturm. Er ruft mich auf meinem alten Handy zurück, das auch er einmal geschickt hat, während zu mir in den Tunnel unter der S-Bahn die Eiskörner hereingefegt werden. Aber wir sprechen auch an ruhigeren Orten.
Von unseren beiden jungen Anwälten, die wir noch gar nicht bezahlen konnten, geht einer gleich am nächsten Tag zu David nach Preungesheim. Er berichtet, David hat dort einen eventuellen Hungerstreik erörtert, natürlich nicht, weil es im Knast nicht so schön ist, sondern wegen des Gesamtzusammenhangs. Er ist sofort mit „Bunker“ bedroht worden, eine Art Gummizelle, Tag und Nacht unter Videoaufsicht, mit „Beruhigungsspritzen“ (Er ist allerdings bestimmt kein bisschen unruhig, in solchen Fällen kommt er, wie schon eine Waldorflehrerin bei einem kleinen Test festgestellt hat, als er sieben war, „vom Kopfe her“.) Aber Spritzen werden sein, meint unser Freund, damit derjenige zum Zombie wird, den man in die Psychiatrie abschieben kann. Ich informiere den Gefängnisdirektor per Fax, dass ich davon den Bundestagsabgeordneten benachrichtigt habe, der im Menschenrechtsausschuss ist, dem wir nicht völlig unbekannt sind, er hat schon voriges Jahr auf unserer Website für Menschenrechte für Priesterkinder unterschrieben. Ich möchte, dass er mit dem Anwalt und mir den Fortgang beobachtet. Dabei habe ich große Angst.
Der Freund und ich zählen jeden Tag am Telefon Geld: noch 960.-, noch 870.-,das wären noch 4 Wochen Gefängnis, dann drei… usw. Die endlose Mauer in Preungesheim, eine Entsprechung zur Mauer vor St. Georgen. Ich streite mich mit dem Beamten herum, der die Besuche vergibt. Dass ich die Fax-Nr. des Direktors herauskriege, ihm schreibe, liegt paradoxerweise an meiner großen Unbedarftheit: ich habe keinen blassen Schimmer, was so ein Gefängnisbetrieb ist und mache gerade deshalb einfach alles, was mir nützlich scheint. Tatsächlich war ich in meinem Leben noch nicht einmal je zu Besuch im „Knast“. Mir fällt nur immer der Satz aus einem Meditationsbuch ein, vor vielleicht 40 Jahren gelesen: Es ist schwer, für die Gefangenen zu beten. Ich erfahre, dass David jetzt vom Hungerstreik abgesehen hat, er hat etwas erfahren, das ihn denken lässt, dass er dort vielleicht in noch extremeren Situationen zum extremen Mittel greifen muss.
Siebenhundertzwanzig… Er wird in ein kleineres Gefängnis verlegt, wo ich ihn schnell besuchen kann, erschrecke, als er hereingeführt wird; er geht wie ferngesteuert. Aber, wird er später erzählen, er hat jeden Abend eine Stunde gesungen, verschiedene Nationalhymnen, außer der deutschen, Lieder von der „Last night of the proms“. Das gefällt auch den Kameraden, die in den angrenzenden Zellen zuhören, manchen richtet es gar auf. Wundern müssen sich alle, dass er so ein Asket ist, er braucht weder Tabak noch Radio. „Möglichst schnell, wenn du es eben schaffen kannst,” bittet er mich, „es ist gut möglich, dass sie weiteres gegen mich suchen und mich z.B. gleich in U- Haft behalten, wegen Fluchtgefahr. Dann komme ich nicht wieder.“ „Man kann vieles versuchen geltend zu machen,“ bestätigt mir sein Anwalt, „dass der deutsche Staat, mindestens de facto, ihn unzulässig mit der Kirche verfolgt hat, und man schlecht einem das „Schwarzfahren“ vorwerfen kann, der in einem immer noch Rechtsstaat trotz eines Betrugs der Kirche, den der Staat unterstützt, irgendwie überleben und seine Mutter überleben lassen will, oft auf einer Art Flucht, aber alles draußen. Wenn es ihnen gelingt, ihn drin zu halten, kann er absolut nichts machen, und Sie und ich auch nicht”. Ich sammle Spenden. Erst kleinere, bei zwei Damen in der Nachbarschaft der Aktion, die immer für uns waren. Die eine war, ist und bleibt unverbrüchlich unsere Freundin, die andere macht die Tür nicht mehr auf,als David “draussen”ist und sich bedanken will. Kleiner Nachtrag: später kehrt es sich um. Als wir die zweite zufällig treffen, ist sie wie umgewandelt. Sie möchte fast gar nicht mehr aufhören mit dem Gespräch. Die erste hingegen ist so rumgedreht worden, wie wir es oft erlebt haben. Als ich Interesse zeige, auch bei einem zufälligen Treffen, an welchem Lokal sie auf der Speisekarte nach Kürbiscremesuppe guckt, tut sie, wie wenn sie nicht mit mir vor einer Speisekarte gesehen werden will. Nicht immer ist sowas so lustig, dass Kürbiscreme vorkommt und Speisekarten.

Der Politiker, den ich auch aufsuchen soll und den David beinahe für seinen Freund gehalten hätte, ziert sich peinlich. Als der Freund und ich bei 660.- angelangt sind, fragt der seinen Vater, was ihm nicht leicht fällt. Der gibt das Geld, was i h m aus eher prinzipiellen Erwägungen nicht leicht fällt, aber er tut es und hat uns wahrscheinlich damit das Leben gerettet. Wäre David nicht rausgekommen, hätte er wahrscheinlich einen Hungerstreik durchgeführt, egal, was passiert; ich hätte ohne ihn nicht Tag und Nacht vor der Jesuitenhochschule stehen können. Gegessen haben wir eigentlich immer von einem Umzugsjob, wenn David, meist für einige afrikanische Studenten mit, einen organisieren konnte. Die dummen und beleidigenden Äußerungen mancher besonders linker Leute in Frankfurt, ich solle doch „zum Staat“ gehen (den sie allerdings ansonsten erheblich mehr in Grund und Boden verdammen, als es mir eingefallen wäre), aber, was „der Staat“ mit m i r machen würde, würde ich mich „an ihn wenden“, hat er mir am Ende von Karlsruhe gesagt.
Ich will kein Geld für mich ausgeben, kein Hotel, usw., im Flughafen schlafen, bis ich ihn rausholen kann.

In der Nacht, ich bin versucht, zu sagen, in der Nacht, als ich verraten wurde, steht sie neben mir um zwei, das noch aufgerollte Absperrband in der Hand. Ein herrenloses Gepäckstück ist gefunden worden, also Evakuierung der ganzen Area . Erkenne ich sie, etwas verschlafen, nicht? Sagt es mir wirklich nichts, wie sie, scheinbar völlig emotionslos, fast tonlos, wie nebenbei in ihr Handy spricht, immerhin direkt neben mir: „…und schickt mir ein paar Securities rüber…“. Das ist ihre Stunde; ich aber, wie im Schlaf, kehre nach Entwarnung zum selben Liegestuhl zurück. Sie stehen im selben Augenblick neben mir, zu dritt? Zu fünft? So wie die auftreten, der dicke Anführer mit einem großen Hund, mag sie mich als regelrecht gefährlich dargestellt haben: das ist die asoziale Mutter von dem Kriminellen, den wir vor zwei Wochen auf der Wache hatten, festgenommen mit Haftbefehl im Flughafen… die liegt jetzt dreist hier drin. Alles kam hoch: die seltsamen Gespräche, die sie hatte mitanhören müssen über Priester, Priesterkinder und irgendwelche, die Jesuiten heißen… der eigenartige Respekt, den die meisten Kollegen vor denen hatten, und statt dass man dem Kriminellen wenigstens die paar Kröten abgenommen hätte, die er in der Jacke trug, um sie schon mal mit der Schuld zu verrechnen, hatte sie mit der Mutter gehen müssen Kaffee und Schokobrötchen kaufen. Ich kann den Schmerz nicht beschreiben, eher ein Schwindelgefühl, das Menschen fühlen, oder dessen Fühlen sie unmittelbar durch Umwandlung in Hass abwehren, die ihre Identität mit einem herrschenden System zur Deckung gebracht haben, wenn sie mit ansehen müssen, wie dabei etwas unbegreiflich quer läuft. Aber das kann sie nun abwenden, bevor es an den Grundpfeilern der Persönlichkeit rüttelt.

„Stimmt“, antworte ich auf die Frage, „ich habe jetzt kein Ticket. Ich bin aber generell eine nicht so schlechte Kundin. Mein letzter Flug ist noch nicht so lang her… Das war… am…“ jetzt rächt sich, dass ich mir, weil immer, Schlag auf Schlag, so viel passiert, abgewöhnt habe, mir genaue Daten zu merken. Mangels Datum im Kopf sage ich: „Das war von hier nach Hamburg und zurück zur Lanz-Sendung, wo ich auch gesprochen habe… Vielleicht haben Sie es ja gesehen?“ füge ich hinzu. Die weibliche Security sieht mich so an: Was die Leute sich neuerdings ausdenken: Im Fernsehen aufgetreten! Hingeflogen! Der Anführer, Typ leiser deutscher Sadist, der es schon vor 70 Jahren als unnötige Kraftaufwendung ansah, die Stimme zu erheben, wenn er die Volksfeinde aus den Wohnungen holte, etwa um dieselbe Uhrzeit wie jetzt, redet, wie er es sich schon damals zur Ehre anrechnete: vornehm, oder das, was er dafür hält, wie manche seiner Opfer, dabei unerbittlich: „Nein, ich begleite Sie jetzt zur Rolltreppe (mit Hund!), während Sie den Airport verlassen!“ Ich fahre die lange, zentrale Rolltreppe hinunter, unten denke ich: So ganz wie ein Schaf will ich doch nicht… und nehme die daneben wieder hinauf. Unbehelligt fahre ich in den anderen Terminal, gehe zu McDo, der die ganze Nacht auf hat, Geld ausgeben darf man ja im Airport meistens Tag und Nacht. Die riesige Empore ist fast ganz leer. Ich kaufe mir einen Kaffee, suche mir einen Tisch. Blätter habe ich bei mir, aber mein Kuli ist leer. Das Mädchen am Desk leiht mir freundlich ihren; ich beginne, das Erlebte aufzuschreiben. Eineinhalb Stunden später kommt die junge Frau, dann ihr Kollege zu meinem Tisch: mehrere Apfeltaschen, Joghurts mit Früchten, legen sie vor mich hin. “?….”
„Vielleicht,“ schlage ich vor, als ich begriffen habe, „auch dem jungen Mann da hinten, der mit dem Kopf auf dem Tisch schläft?“ „Nein, nein, das ist alles für Sie.“ Alles, was sie bei der Inventur zum Abschluss der Nacht, vor dem Frühgeschäft, noch finden konnten, haben sie mir gebracht. So trösten sie mich.

In der Frühe ziehe ich das Lösegeld aus dem Automaten. Direkt zum Gefängnis, das in einer ruhigen Straße liegt, gegenüber einem kleinen, jetzt sehr winterlichen Park, in dem sich ein Hospital befindet. Sehr klein in die hohen Mauern geduckt, mit einem Fensterchen mit einem Spiegel, die Tür.
Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein
Ach wie wird an diesem Orte meine Seele fröhlich sein
Hier ist Gottes Angesicht, hier ist lauter Trost und Licht
( evangelisches Kirchenlied)
Anders als die heute Nacht schätzt mich der Beamte in seinem Spiegel als ungefährlich und kompatibel ein und drückt auf. „Ich will meinen Sohn abholen – Sechshundertdreißig sind doch richtig heute?“ Den Ausweis durchgeschoben, sein Blick in den Computer. Das Geld annehmen muss ein anderer. Zwei Mal links. Schwere Stahltüren werden aufgedrückt mit Summer. In dem Büro sitzt einer hinter einem großen Schreibtisch, der mir Platz anbietet, Namen prüft, Zeiten, wie mir scheint, nachdenklich lang im Computer eine Frage stellt, die Antwort abwartet, extra noch einmal angerufen wird. Augen-Blicke hin und her, es herrscht in der Tat eine gewisse Spannung im Raum, wie ich die Summe hinzähle, hingezählt habe. Wenn der jetzt sagt: Hier ist Ihre Quittung. Damit ist das in Ordnung. Wir sagen Ihrem Sohn hier Bescheid. Über das, was noch gegen ihn geprüft wird, kann er hier über seinen Anwalt informiert werden… oder so. Aber er sagt: “Es wird einen Moment dauern, bis er seine Sachen beisammen, Formalitäten erledigt hat. In etwa einer halben Stunde können Sie ihn draußen in Empfang nehmen.”
David ist noch wie benommen. Mein schlimmes Bein, das ich mir beim Hungerstreik im Oktober vor St. Georgen geholt habe, ist kein bisschen besser geworden nach mehr als einem Vierteljahr, eher schlechter. So treten wir die Phase des Sitzstreiks an, von der wir noch nicht wissen, dass es hier die letzte ist.

Sie ist nicht tot, sie schläft nur.. Malta. Nur mit Gewalt können sich die Besucher von der schmalen, senkrechten Glasvitrine lösen, in der sie schläft. Eine Priesterin? Auf ihrem Lager, auf der Seite liegend, im weit ausladenden Rock, den sie alle tragen, die Kolossal-Statuen und diese fast winzige Statuette. Früher schlief sie, vielleicht 5000 Jahre lang, in Hal Saflieni, im Hypogäum, dem in mehreren Etagen in die Erde hinunter gebauten Tempel, dann wurde sie heraufgebracht ins Museum. Von der sleeping lady geht eine unvergleichliche Ruhe aus.
Dreißig Jahre davor im Bus mit lauter mehr oder weniger leitenden Kirchenleuten: Monsignori, sogenannte Laien, die große Organisationen leiten, einer wurde danach Hochkommissar für das Flüchtlingswesen in seinem Land. Ein italienischer Bischof, den die anderen heimlich belächeln, weil er im vollen Ornat erscheint. Wir sind beim abendlichen Rahmenprogramm einer großen Konferenz: guided tour über die Insel Malta. Ich dolmetsche diese Konferenz schon im achten Jahr, ein oder zwei Mal jährlich. Deshalb bin ich mit nicht wenigen ganz gut bekannt, die immer kommen. Ich bin schwanger; aber so privat sind wir auch wieder nicht, dass sie erkennen lassen würden, dass sie es auch sehen. Jetzt sagt der Guide ins Mikrofon: dieser Tempel, links vor Ihnen, hat Nischen. Man nimmt an, dass dorthin die Frauen in die Nähe der großen Muttergottheit zur Entbindung kamen… Darauf war ihre höfliche Selbstbeherrschung nicht vorbereitet: Alle drehen sich im selben Augenblick zu mir hin und – schnell wieder weg. Da ist er schon beim nächsten Satz: … und sie dienten wohl auch allen, besonders den Leidenden, für den Tempelschlaf. Zwei, drei Tage oder länger Schlaf mit Träumen, von den Priesterinnen bewacht.
Das ist lang her, sagen wir: 5000 Jahre. Aber sogar noch im europäischen Mittelalter war es selbstverständlich, Pilger in der Kathedrale von Chartres schlafen zu lassen.
Schlafen wir in der Flughafen-Kapelle, sage ich zu David, nachdem er erklärt hat, dass er nicht unbedingt mit dem restlichen Geld ins Hotel muss, geschlafen hat er dort, wo er herkommt, mehr als genug. Aber nach all dem Stress gleich wieder die ganze Nacht vor die Jesuiten-Burg? Ein Mal, zwei Mal Schlaf in der Kapelle. Beim dritten Mal kommt tief in der Nacht ein türkischer Security. „Ist das hier nicht sozusagen extraterritorial?“ „Kann sein, aber wir müssen aufpassen, dass alles in Ordnung ist und bleibt.“ Aber außer, dass wir nicht sitzen, sondern auf den Stühlen ausgestreckt waren, sieht alles 2 Minuten später so aus wie vorher. Also? Er beginnt höflich eine Belehrung, wozu eine Kirche da ist. Nach zwei Sätzen unterbreche ich: „Ehrlich gesagt, ich glaube davon verstehe ich doch noch mehr als Sie“. Das räumt er ein. Draußen steht ein frecher Hesse, der sich Gummihandschuhe überzieht für den Fall, dass wir noch weiter diskutieren wollen.
– „Jesus,“ sagte an einem Vormittag neulich erschrocken die erschöpfte, alte Frau und griff nach dem Kreuz an ihrem Rosenkranz, den sie um den Hals trug, wie sie von einem Trupp des Kommandos „dieser Flughafen ist obdachlosenfrei“ geweckt wurde. Doch schwang noch ein Rest des Vertrauens in ihrer Stimme mit, das wir mit diesem Namen verbinden können. „Ich bin hier Jesus“, antwortete der forsche junge Security. Noch einmal: ” Ich bin hier der Stellvertreter von Jesus -Und jetzt ziehen sie die Schuhe an und verlassen den Flughafen”.

Als wir aus dem Hotel zurück kommen, wissen wir, dass wir unseren Rhythmus völlig umstellen müssen: Abends um zehn, wenn ich eigentlich sehr müde werde, gehen wir ins Café. Qualvoll gegen den Schlaf ankämpfend vor einem Becher Cola, oder einem leeren Becher bis Mitternacht, mit der letzten Bahn zur Balduinstraße. Nachtwache am Sitzstreik- Platz vor St. Georgen, bis gegen vier, halbfünf. Das war schon bei meinem Hungerstreik im Oktober so, nur noch ein bisschen lebhafter,, weil es nicht ganz so kalt war: Spätheimkehrer, Taxifahrer, Fahrer vom Nachtbus… stellen aber auch dieses Mal Fragen angesichts der leuchtenden, langen Banderole Menschenrechtefuerpriesterkinder, die ein Profi hergestellt und beschriftet hat, der auch einmal nachts vorbeigekommen war. Moslems, die sich haben erklären lassen, was das hier ist, bringen Vanillemilch, Croissants, Obst… ein Bekannter aus Davids politischem Engagement, der Taxi fährt, und von dem David eher angenommen hatte, der könne ihn nicht besonders gut leiden, fährt jetzt jede Nacht den stärksten Kaffee der Welt heran. Morgens durch die Eiseskälte zum Beispiel zu McDo. Am Tag, wenn möglich, etwas schlafen, außer für David, wenn er einen sogenannten studentischen Umzugsjob aufgetan hat, dann geht er da hin, ohne geschlafen, gegessen zu haben, wuchtet er Waschmaschinen, Schränke… während ich voller Angst den ganzen Tag seinen Schutzengel anflehe… Oft kommt er deutlich später zurück als gedacht, wenn ich schon in Panik bin, die Leute schätzen die benötigte Zeit häufig zu gering ein. Er ist froh, dass er gut Kamerad sein konnte mit einigen afrikanischen Studenten, das ist auch eine Abwechslung zu dem ewigen furchtbaren Druck, und dass es so lang gedauert hat; Essen, Hotel, vielleicht gar zwei Nächte schlafen.

Bis zu meinem Hungerstreik hatte ein Gastgeber großzügig angeboten für die Dauer dieser Aktion in Frankfurt seine für drei nicht übermäßig große Wohnung mit uns zu teilen. Niemand kam auf die Idee von allen Bekannten, politisch Engagierten, den mal abzulösen oder für ein Wochenende ihn oder uns einzuladen, damit eine Abwechslung geschaffen würde; es war aber trotzdem ein ganz gutes Zusammenleben. Wir konnten relativ bald eine Gruppe bilden mit Unterstützern für den Streik, ich lud sie öfter zum Essen in die Wohnung des Gastgebers ein, das machte uns allen Freude. Aber vom 4. Monat an spürten wir den Niederschlag der Hetze so ziemlich aller anderen seiner Bekannten, die uns oft gar nicht persönlich gesehen hatten. Jeder, hier meist erklärte Atheisten, die ansonsten nicht viel Ahnung von Kirche haben wollen, glaubt, etwas zumeist Unqualifiziertes oder Beleidigendes beim Stichwort Priesterkind sagen zu können, oder ist es vielleicht nicht beleidigend, zur sehr politischen Aktion, geführt von Erwachsenen, zu sagen: “ wieso… die Kirche zahlt doch bis zum dritten Kind…?“ David, der mit der Eingangsnote 1,3 endlich hatte anfangen können zu studieren, dabei bis in die Nächte seine Übersetzungen gemacht hat, dafür auch in der Uni selbst gefragt war, aber gesehen hat, dass die Dinge aus der Zeit, als Kirche und Staat besonders zusammenhalfen, was ihn und seine Mutter hätte zu Tode hetzen können, in Ordnung gebracht werden müssten, bevor er in Ruhe zu Ende studieren könnte. Der sich bereits am Sitzstreik-Platz immer mal Unterstellungen und ungeheure Frechheiten von Katholiken anhören musste, während 70 Prozent aller anderen, die dort das Gespräch suchten, unserem Anliegen zustimmten, und wo ich manchmal angesichts hochnäsig tuender Studentinnen (am Anfang, später wurde es besser) scherzhaft gesagt habe: “du solltest doch in den Mensa-Club gehen und hier ein Schild mit deinem IQ aufstellen”, David, der sich vielleicht seit Jahren irgendwie aus dieser ganzen Verfolgung hätte herauswinden, es zumindest hätte versuchen können,wenn er mich, ausgeraubt und vertrieben wie ich war, aufgegeben hätte, das ist ihm im Traum nicht eingefallen, wird nachgeredet, dass er nicht selbständig sei, nicht fleißig, vielleicht nicht intelligent, irgendwie zurückgeblieben, wie mir Katholiken gern Herz und Schmerz nachreden, bin „nicht fertig geworden damit, dass der Jesuit eine andere vorgezogen hat.“ Unser Gastgeber, den wir bis zum Abend ,an dem er zu uns an den Platz vor St.Georgen kam, uns einzuladen, gar nicht gekannt hatten, hatte uns eingeladen für diese Aktion und genau die haben wir eifrig betrieben. Daraus haben seine Bekannten unfähige Leute gemacht, die sich bei ihm eingeschlichen haben. Mon Dieu! Aber natürlich: Dass die Kirche, der Jesuitenorden, als einzige Institution, so etwas so in die Länge ziehen kann, während sie selber und mit der Zeit auch alle anderen wissen, was sie getan haben, macht alle verrückt. Du weist ihnen nach, was sie Kriminelles tun und … es geschieht nichts. Das ist wie bei der Figur im Märchen, die vom Held mit dem Pfeil getroffen wird und einfach unversehrt stehen bleibt. Allerdings, anders als Kirchenleute das vielleicht interpretieren möchten, ist der auf diese Weise Unverwundbare der Böse, vielleicht der Teufel selbst.

Als es mit dem Gastgeber zu Ende war, dachte ich, das ist der Moment für den immer wieder einmal besprochenen, hinausgeschobenen Hungerstreik. „Also in night?“ fragt ein kleiner, indischer Jeusit erschrocken, mit dem ich immer mal ein paar freundliche Worte wechsle. Er ist hier wegen seiner Promotion und gehört nicht direkt zu dieser Kommunität, so kann er das Redeverbot mit uns vielleicht etwas lockerer auslegen. Von den Hiesigen ist der von uns so genannte” Ex-Gertler”, (wir hielten ihn längere Zeit falsch für einen dieses Namens), sichtbar bei denen, die das nicht einfach wegstecken. Abends spät kommt er an das wie immer um 21 Uhr von einem jungen Mann geschlossene Tor. Er rüttelt vorsichtig innen an den Stäben, als müsste er prüfen, ob alles ordnungsgemäß intakt und zu ist, und späht dabei nach draußen. Ja, wir sind da.
Die Japanerin überreicht mir, formvollendet und dabei ganz natürlich, wie es nur Japanerinnen können, einfühlsam für diesen Zweck ausgesuchte Geschenke: zwei selbstgestrickte, sehr warme grüne Schals aus Alpaka-Wolle, japanische Wärmepflaster, einen besonderen, eigentlich für die Teezeremonie bestimmten Zucker in einem elegant bemalten, japanischen Schächtelchen und einen Walkman mit Bach und Beethoven. Nach wenigen Tagen kommt eine Frau vorbei, nur zwei Mal, dann habe ich sie nie mehr gesehen, mit einer sehr großen Auswahl an Kassetten. „Sie werden unerwartete Schätze darunter entdecken,“ verspricht sie. In der Tat! Ich hatte Mendelsohns Symphonie Nr. 4, A-Dur Op 90, die „Italienische“, nicht gekannt, nun hörte ich sie immer wieder und ging dabei auf und ab.
Brigitte, die mich fast jeden Morgen angerufen hat beim Gastgeber, seit wir uns hier kennen gelernt haben, die gern meine Freundin geworden wäre, ist intelligent. Zu einigen sozialen Phänomenen sagt sie: Die großen Selektionen haben schon begonnen. Brigitte erklärt sur-le-champ, dass sie absolut gegen Hungerstreik ist, daher auch nie vorbeikommen, zu trinken bringen wird, oder mal sehen und hören, wie es geht. Bei meiner Selektion will sie nicht dabei sein.Wie das oft ist, im Leben: R., eine unserer Unterstützerinnen, die dann öfter kommt, zu trinken bringt, hat selbst kaum das Nötigste zum Leben.

Vor einigen Monaten hat uns die Redaktion des Tatort-Krimis angerufen mit einigen Fragen zu Priesterkindern. Jetzt wird der Krimi gesendet. Leider ist der Priestersohn der Täter, aber die hinterhältige Quälerei von Priesterkindern und ihren Müttern kommt gut heraus. 10 Millionen sehen den Krimi, mehr denn irgendeinen anderen „Tatort“ in diesem Jahr. „Das Thema interessiert Deutschland“, sagt der Journalist, der uns mit einem Team aufsucht, einen ganzen Tag vorbereitend für eine Fernsehsendung filmt und interviewt. Aber zuerst kommt Breitmann.

„Was sagen Sie denn zu der Situation hier… mit der Frau im Hungerstreik?” Zu Studenten, Professoren, Besuchern. Furcht und Abwehr bei vielen, Hände werden vor die Kamera gehalten. Einer der, glaube ich, lediglich regelmäßig ihre Bibliothek besucht, stellt sich in Positur: Ich bin unglaubwürdig, erklärt er, ich müsste bei dem Hungerstreik längst tot sein. Das nimmt er mir eigentlich übel, dass ich noch lebendig da sitze. Einer, den wir „lego“ nennen, weil er oft mit einer Tragetasche herumgeht, auf der dieses Wort steht, gibt wohl wieder, was drin auf die Frage der Jüngeren formuliert wurde, nachdem wir uns da installiert hatten: „Priesterkinder stehen unter Gottes besonderem Schutz – Ihr Erbrecht ist allerdings an die Kirche übergegangen.“ Ein Besucher, der aufgebracht erklärt, dass er kein Jesuit ist, aber den „Orden sehr gut kennt“, ist furchtbar wütend darüber, dass der Reporter da ist. Einem verschreckten, angesprochenen Studenten winkt er mit Blick auf den Reporter ab:” Lassen Sie den doch – der ist krank!”
„Jetzt sind sie aufgescheucht“ sagt der Reporter dieses politischen TV-Magazins, als Verschiedene von drinnen herauskommen, auch versuchen die Hand vor die Kamera zu halten, ihn einschüchtern wollen, der Pro-Rektor der Fakultät droht ihm mit der Polizei. Ein lebhafter, jetzt auch sehr aufgeregter Mann, wird er, gerade als sich zwischen ihm, dem Reporter, David und mir ein heftiger, aber durchaus den Namen Gespräch verdienender Austausch anbahnt, vom herbeigeeilten Mann für’s Grobe, nein, nicht durch diskrete Blicke, nicht durch verstohlenes Schieben, sondern durch brutales Auf-die-Seite- stoßen aus dem Blickfeld befördert. Uns andere drängt der Mann für’s Grobe ebenso brutal auf den Zentimeter genau an das Pflaster, wo der öffentliche Bereich beginnt, aus dem er uns nicht entfernen kann. Noch nicht, denkt er wahrscheinlich. Am Nachmittag sucht mich ein Polizist auf: Ob ein Reporter hier war? Er hat uns interviewt, Leute befragt, gefilmt? Die Jesuiten wollen ihn anzeigen. Das klärt sich rasch durch einen Anruf bei Breitmann und dessen abendlichen Anruf bei der Wache. Einige fromme Frauen haben sich zusammengetan und Klage geführt, David würde ihnen gegenüber verbal ausrasten. Das kommt vor, gebe ich zu, sie provozieren ihn allerdings oft außerordentlich beleidigend. Vorigen Sonntag gab es einen Auffahrunfall, als ein Wagen aus St. Georgen herausfuhr und einen Motorradfahrer erfasste. Gott sei Dank ist dem nichts passiert; mit den beiden Damen im Wagen haben wir schon gesprochen. Die Jesuiten versuchen, geltend zu machen, das sei passiert, weil wir da stehen. Wir stellen unseren kleinen Tisch ein Stück weiter weg. Die ganze Zeit war die Polizei eher wohlwollend neutral, und jetzt analysiere ich , dass er mir wohl auch den Hinweis gibt, wir sollen aufpassen, die suchen etwas gegen uns. So steht Davids größte Feindin am Abend nach der Messe lang im Tor und wartet –vergebens : er wird nicht weggeholt.

Der Killer steht zehn Stunden später vollkommen unbeweglich am Tor, eine Aktentasche in der Hand, zehn Minuten, dreißig, fünfzig… Wir verständigen uns flüsternd, dass er zu sehr dem Klischee eines Killers im Morgengrauen entspricht, um einer zu sein.
„Drehen Sie sich weg!“ schreit ihn die junge Frau an, die aus ihrem Auto springt, „ich muss austreten!“ Sie hockt sich direkt vor die Einzeltür neben der Einfahrt, durch die Spätheimkehrer gehen, die den Code kennen, und macht tatsächlich da hin. „Die war heute nacht schon mal da, als du geschlafen hast,“ flüstert David, „da hat sie…“ Das zerschmetterte Marmeladenglas am Tor legt Zeugnis davon ab. „Die Pfarrer!“ schreit sie, „wann kommen die endlich raus? Ich will einen Gottesdienst! Ich habe bezahlt! Kirchensteuer!“ Es ist noch nicht 6 Uhr, ich versuche sie ein wenig zu beruhigen: Hier ist erst spät am Vormittag Gottesdienst, aber vielleicht finden Sie in der Stadt eine Frühmesse… um 7 . Sie springt in den Wagen, fährt ab… und kehrt gleich wieder zurück. Hervorragende Autofahrerin, stoppt sie zentimetergenau, wo sie rausspringen will, langt auf den Rücksitz, die Eier sind ziemlich groß! Drei Eier knallt sie, eines nach dem anderen, an das Halbrund der Mauer, das auf ihrer und des Killers Seite das Tor einfasst. Die Dotter fließen ausgiebig nebeneinander ganz hinunter. Der Killer rührt sich nicht. Erst, als um 6 das Tor geöffnet wird, geht er als Handwerker in den Hof hinein. Am Tag merkt man, dass der Mann für’s Grobe die Spuren des Wutausbruchs ganz gern David anhängen möchte. Aber die Gärtnerin war früh da und hat die Autonummer der Frau aufgenommen.
Vielleicht ist die Frau am Vortag zufällig hier vorbeigekommen, als der Reporter da, als etwas los war, vielleicht auch nicht. Ich denke, sie gehört zu den unter irdischen Bedingungen als labil bezeichneten Menschen, die von ihrem Dämon, nicht dem christlichen, bösen, sondern dem griechischen: einer großen, nicht-menschlichen Kraft, weder gut noch böse, dorthin getrieben werden, wo sich eine Energie zusammenballt, ohne dass sie richtig wissen, warum. Matthias Rust war wohl auch so einer, der mit seinem kleinen Flugzeug die Grenze zur Sowjetunion durchbrach, ohne recht zu wissen, warum, während sich dort eine ungeheure Energie zusammen zog, die nicht sehr lang danach den Eisernen Vorhang an sein Ende bringen würde. M. R. hat teuer dafür bezahlt.
Ich möchte sicher gehen, dass die Sache mit den Eiern definitiv geklärt wird. Es kostet mich Überwindung, aber ich spreche den Mann für’s Grobe an, der mich selbst bei diesem kleinen Einzelgespräch unerbittlich, höchst unhöflich wie es kaum ein Mann gegenüber einer Frau sonst fertigbringt, Schritt für Schritt rückwärts auf den öffentlichen Bereich drängt-, ich war höchstens zwei Meter in ihren Hof gegangen, weil er dort stand, -damit ich ja nicht länger auf ihrem Terrain zu stehen komme. Rätselhaft: die Erwähnung der aufgeregten Frau entlockt ihm ein überraschend ungeheuer böses Lächeln. Erst als ich sein Photo zu einem Statement in der Kirchenzeitung sehe, wird klar, dass der den wir „Mann für’s Grobe“nennen, der Obere ist, der hier ernannt wurde, als wir einige Zeit schon auf unserem Posten standen. Von der Ernennung wussten wir übers Internet, auch, dass der dieses Namens der ist, der aus Rom, im Namen des Jesuitengenerals, holländischen Journalisten Antwort gab, die ihn wegen uns befragten, aber wir hatten nicht diesen dafür gehalten. Seine heftigen Reaktionen kommen aber vielleicht nicht nur daher, oder weil er hier jetzt leitet. Er war vielleicht damals dabei, als die Jesuitenkurie des Generalsekretärs Vorstoß zu einer partiellen Wiedergutmachung für uns ablehnte, er muss unsere wahre Geschichte kennen, die sie natürlich auch ihren eigenen Rängen weiter unten in der Regel verschweigen. Er war wohl dabei, als wieder die Devise ausgegeben wurde, die hier erneuert wird: Nichts zugeben und nichts hergeben.
Auch nach Holland hatte mir der Direktor der Jesuitenarchive in Rom ein bestürztes, herzliches E- Mail auf Französisch geschrieben: Sie sollen nicht denken, Madame, dass wir hier nicht Ihren Schrei hören… wir sprechen auch miteinander darüber. Ich dankte ihm und erzählte ihm ein wenig von unserem Leben bei jenem Protest in Holland . Dann habe ich nie mehr etwas von Ihm gehört.
Der Hunger war nicht das Schlimmste bei diesem Hungerstreik, aber immer schlimmer wurde mein rechtes Bein. Ich hatte nur einen zu niedrigen Hocker, Tag und Nacht darauf zu sitzen, zog die Beine viel zu scharf an wegen der Kälte, oft kippte ich in einen Erschöpfungsschlaf mit unnatürlich angewinkelten Beinen. Die Schmerzen nahmen zu.
Der Anruf zu “Lanz”. Das Team, das den Fernsehauftritt vorbereiten kam. Ich brach den Hungerstreik ab. Wir flogen mach Hamburg zur Sendung.

An einem Abend ist David zu meinem Schlafzimmer gekommen. Hast du das auch gehört? Es hat zwei Mal präzise und energisch an die Haustür geklopft. Er ist aufgestanden, hat nachgesehen. Niemand. „Das hat mir etwas Angst gemacht,“ sage ich am nächsten Tag. „Was glaubst du, wer das gewesen sein könnte?“ „Der Tod“, antwortet er. Auch ich habe als erstes spontan an den Tod gedacht.
Wir sind noch nicht über den Berg.

S e a r c h i n g f o r t r u t h. Das Buch hieß noch nicht so; es hatte noch gar keinen Titel. Meine Möbel waren noch nicht da. Deshalb saßen Peter und ich etwas unbequem auf einer Matratze in meiner neuen, kleinen Wohnung in Düsseldorf, während er die Blätter in Händen hielt, mir den Entwurf zum Exposé vorlas. Ich muss gestehen, dass ich an dem Abend nicht ungeteilt aufmerksam war, ich war jung, wir hatten uns länger nicht gesehen… Aber wörtlich weiß ich noch diesen Satz von ihm: Wenn ich dieses Buch veröffentliche, wird Rom sich sehr ärgern.
Nichts wirklich zum Ärgern für Rom in dem weissgewaschenen Büchlein, das Prof. Greinacher 15 Jahre später in der Bibliothek der theologischen Fakultät in Tübingen fand und mir schickte. Nichts adäquat von den Spannungen, der Verzweiflung, nichts von der Wut über Kirchen-, Ordenspolitik. Und eine gehirngewaschene Version seiner eigenen Geschichte, in der das Wesentliche fehlt.
Er hatte nicht mehr geglaubt, dass er noch an Gott glaubte, an Geschichte und Rolle Jesu… Das ist allerdings nichts Besonderes, mir scheint, für nicht wenige Priester und mehr Ordensleute treten im Lauf des Lebens ohnehin die Kirche, ihr Orden, immer vollständiger an die Stelle Gottes, ein echter, manchmal furioser Götzendienst, dessen längst eingetauschten Gegenstand sie gar nicht als solchen bemerken. Ich wünschte, schrieb Peter mir einmal, ich könnte so glauben wie Du. Aber für mich ist Gott, wohl seit ich lebe, zuerst wie die Luft, die unsichtbar uns umgibt, und die kein Mensch extra beweisen oder leugnen will, während er ein- und ausatmet. In der Kirche hatte ich mir erhofft, den unsichtbar gegenwärtigen Gott mit anderen in Zeichen zu erleben, feiern, auch besprechen zu können, glaubte es auch manchmal zu erleben, erlebt zu haben, das konnte nicht für immer so gehen mit Menschen, die glauben, Gott einen Gefallen zu tun, wenn sie ihre eigenen Kinder bestehlen und quälen, oder das jedenfalls für richtig halten.
Peter hatte den Boden unter den Füßen verloren, im Eindruck, sein Leben an etwas gewandt zu haben, das nicht trug. Zudem gehörte er zu den Männern, die sich als junge Erwachsene ein Leben nur in einer festen Struktur wie einem solchen Orden vorstellen können, das kann man Berufung nennen: die einzig mögliche Weise für jemanden, zu existieren. Das heisst nicht unbedingt, dass derjenige auch zur Enthaltsamkeit berufen ist, selbst wenn er, subjektiv erst einmal ehrlich, diese Verpflichtung jugendlich heldenhaft und idealistisch bejaht. Peter suchte Frauen, vielleicht auch tief, tief verdrängt das in dieser Struktur Allerverbotenste: das Leben weiterzugeben. Der Salto Mortale, mit dem solche Männer die Liebe, das schließlich weitergegebene Leben, auf Befehl des Götzen von innen, von außen, von oben, plötzlich als sc h l e c h t ansehen müssen? sollen? wollen? zerstört ihre Substanz. Bleibt ein Rest, ist es die Liebe zum Tod. In diesem Buch, streckenweise trocken wie das australische Outback, steht der Satz beim Besuch eines Grabes, den man etwa so übersetzen kann: Ich grüße diesen Toten, wie ich alle Toten grüße. Das hört sich auch an, wie: Im Gedenken an alle unsere Toten, versichere ich euch, Ordensbrüder, Verehrer unserer Toten wie ich, meiner unverbrüchlichen Ergebenheit.

Die während des Sitzstreiks immer häufigeren, immer drängenderen Mails einer Dame an David, ihre fast frenetische Suche, mit der sie immer mehr Fundstücke aus dem Internet zog zum Suchwort Peter Kelly, über seine Schulzeit, seine Familie… ihre überbordenden Assoziationen, Mutmaßungen, Projektionen, die eigentlich alle das Ziel hatten, David dazu zu bringen, sein Leben so zu sehen, wie sie sich nur vorstellen konnte, dass es war, und dass er, mit ihr, seiner Mutter irgendetwas anhängen sollte, denn sie behauptete zwar, aus der Kirche ausgetreten zu sein, aber es definiert christliche Frauen in Ewigkeit, dass sie anderen Frauen, die nicht konform gehen, nachweisen müssen, dass die Dinge nicht so (gewesen) sein können, wie die sagen, und dass jede Unbill, die sie und ihre Kinder trifft, verdiente Folge ihrer Unbotmäßigkeit ist. Die Vorstellung, dass ein erwachsener, junger Mann, Priestersohn oder nicht, nicht unbedingt darauf wartet, dass ihm eine fremde, ältere Frau sein Leben erklärt, trübte nicht ihren Horizont. David fand das eher komisch, manchmal richtig lustig, manche der Fundstücke phänomenal.
Irgendwann in dem Hin und Her hatte er Düsseldorf erwähnt. Plötzlich kam die Dame, die er nicht kannte, die uns nicht kannte, damit heraus, sein Vater wäre nie mit seiner Mutter in Düsseldorf gewesen, das heißt auch, bei der Mutter zu Hause, das sollte wohl auch heißen, dass David dann mal so en passant entstanden wäre, das wäre dann ein „Beweis“ für das, was mir einst der berühmte, progressive Priester salbungsvoll, mit dem typischen Mangel an Élan vital im Gesicht, vorhielt „…da waren Sie eben nicht das Endgültige…“, einen solchen Schwachsinn hatten mir nicht einmal Jesuiten je zugemutet, die sogenannten progressiven Christen sind zuweilen noch schwachsinniger und halten einen für schwachsinniger als die anderen. Übrigens hätte, selbst wenn es so gewesen wäre, das absolut nichts damit zu tun, dass Davids Unterhalt gestohlen werden durfte. Aber über die Rede der Frau musste ich doch lachen. Na ja, sagte ich, ich war dabei in Düsseldorf. Aber wie kam sie darauf? Ach so, sie hatte Peters Büchlein bestellt und gelesen, das wenig Wahres enthält und deshalb umso mehr Wert auf das Wort Wahrheit im Titel legt. Searching for truth. In dem Büchlein schweigt er uns tot. Kein Zusammensein, Gespräche, Ängste, Umarmungen, Heiratspläne, Reisen… amour fou… Die Geburt seines einzigen Sohnes, seine Erschütterung nach der Geburt und seiner Zwangsverheiratung, die er mir noch geschrieben hatte. Ein Kanadier hat ein Vorwort zum Buch geschrieben, in dem Peter gelobt wird: So progressiv, zu wagen, aus dem Orden auszutreten, so nächstenliebend, eine Frau mit 4 Kindern zu heiraten. David hat damals den Kanadier angerufen. Der war sehr erstaunt. Peter Kelly kannte er gar nicht. Jemand hatte ihm gesagt, was er schreiben sollte.
Als David den Sitzstreik- Platz kurz mir und den Unterstützern überlässt, nach Hamburg fährt um einen bestimmten Anwalt aufzusuchen, verabredet er sich mit der Dame in der Mensa der Uni. Was sie über sich selbst gesagt, wie sie sich eingeführt hatte, erscheint doch manchmal ziemlich wie eine Legende: aus der Kirche ausgetreten, aber aus komplexen Gründen, die zu erklären zu weit führen würde, mit dem Studium der Gründungsakten des Jesuitenordens befasst, dabei zufällig im Internet auf uns gestoßen. Später sollte sie auch noch das Eneagramm hervorholen, das ich für einen alten Hut halte, auf den ich Bernanos’ Bemerkung anwenden möchte,… „Ces psychologues qui croient savoir ce qui est dans l’homme…“( etwas scharf übersetzt: Diese Psychologen, die sich einbilden, dass sie wüssten, was im Menschen ist…) aber hier spricht für die Vermutung einer Legende, dass es in Kursen für „Geistliche Begleitung“ benutzt wird.
Eine schöne Gesellschaft: Die Frau, die fast alles besser weiß, weiß aber nicht, dass David seinen kurdischen Komilitonen und guten Kumpel von vielen studentischen Umzügen gebeten hat, in der Mensa inkognito zugegen zu sein. Mal sehen, wie es verläuft, mal sehen, ob sie noch jemanden mitgebracht hat. Der Freund erledigt die Aufgabe perfekt von einem Tisch in der Nähe aus. Nichts im geringsten Plumpes, nichts Kitschiges in seiner Observation, wie einst bei dem einmaligen Knilch, den der Staatsschutz in Karlsruhe für uns aufgeboten hatte, der bei unserem Treffen mit zwei Jesuiten am Protestplatz ganz zufällig auf einer Bank daneben hinter der Bildzeitung hervorlinste. Wir waren zwar mit der Zeit öfter verwundert über die zuverlässig zu erwartende Gegenwart des Mannes an verschiedenen Plätzen, dachten aber trotzdem, naiv, nicht weiter. Erst meine Cousine zu Besuch, am Bahnhof Karlsruhe ankommend, identifizierte ihn auf den ersten Blick als Mitarbeiter des Deuxième Bureau, wie er da in der Halle wieder „ganz zufällig“ neben David stand, der sich zur Entspannung auf der großen Leinwand die Tour de France ansah. Dem Urteil meiner Cousine half, dass sie aufgrund ihres Studienfachs sich häufig in den zu der Zeit hinter dem Eisernen Vorhang befindlichen Ländern aufgehalten hatte. Wir analysierten daraufhin Punkt für Punkt das Verhalten des Knilchs, die Begegnungen. Sie hatte recht.
Aber es gibt nichts Auffälliges bei dem Treffen mit der Frau in der Mensa. Am Ende gibt sie David ein Geschenk für mich mit, einen dicken, altertümlichen Wälzer; Briefe des Ignatius an Frauen. Seit ich fünf war lese ich so ziemlich alles, was mir in die Hände fällt, keineswegs nur was ich sowieso für richtig oder wichtig halte. Aber dieses Buch, bei aller Berücksichtigung anderer Zeiten, Länder, Umgangsformen, ist qualvoll. Es ist zum Sterben langweilig. Wenn es stimmt, dass Ignatius eine Tochter hatte, mag das, wie bei Peters Buch, der Grund für das leere Gefühl bei der Lektüre sein, wie für den Eindruck, den mir andere seiner Werke machen; Ich sage nicht, dass ein Mann zu seinen Kindern dieselbe Nähe empfinden muss wie eine Mutter, auch nicht, dass er die Mutter seiner Kinder heiraten muss, obwohl in dieser Zivilisation viel dafür spricht, aber nichten, totschweigen, schlechtmachen, darben lassen darf er weder Kind noch Mutter. Tut er es, erhält seine vermeintliche Geistigkeit einen touch von Überkompensation, auch etwas Gewolltes, Gewaltsames, oder er ergeht sich in übertriebener Seriosität, wie wenn er sich mit jeder Äußerung als exemplarisch honorig beweisen muss… Sein Geist trägt für immer den Stempel seines Verrats am Menschsein; auch ein caractère indélébile. Die Kirche: ein dreimal in der Wurzel verdrehtes, von Männern repräsentiertes Matriarchat, dassich für Geld und Macht dem Patriarchat andient; Priester, Ordensmänner, nicht selten psychisch einer matriarchalen Epoche angehörend, wo es vielleicht die Besuchsehe gab, wo nicht der Vater, sondern der Bruder der Mutter den männlichen Teil der Verantwortung für die Kinder ausübte… Die Widersprüche daraus, je nach Ort, Zeit, Milieu, Umständen im Patriarchat bis heute gefährlich, sogar tödlich, legen sie auf Frauen und Kinder, ihre eigenen Kinder, das muss man ganz langsam lesen, auf der Zunge zergehen lassen, um die Perversion zu schmecken. Da sind sie fein raus: die eigenen Kinder aller Welt als Opfer darbieten, deren Mütter erniedrigen und dabei den Frommen geben: welch ein Schauspiel!
Da die verschiedenen Taten und Untaten langsam zum Himmel stinken, so dass es bei vielen ruchbar wird, die nichts mehr damit zu tun haben wollen, müsste der Staat, der auf diese Art der Ausübung von Religion offenbar Wert legt, vielleicht demnächst bei Franco in die Lehre gehen : wer in den von Franco eroberten Gebieten noch am Leben war, tat gut daran, egal, was er dachte, glaubte und wollte, zur Beichte zu gehen, den erteilten Beichtzettel zur Bestätigung mitzunehmen, jederzeit vorzeigen zu können, öffentlich zur Kommunionbank zu schreiten, sonst waren die Denunziationen nicht fern, die Erschießungen.

Wenn die Kirchenleute merken, dass ihre Rechnung aufgeht: zuerst milde heruntergemacht die Protestierenden, ein bisschen wie arme Irre. Wenn sich das nicht halten lässt, Halbwahrheiten verbreitet, an Medien nur verzerrt das Allernötigste, sonst könnte es ja so aussehen, als hätte man es nötig. Warten, ob nicht die Nachbarschaft, die Unterstützergruppen zu viel kriegen oder wenigstens müde werden, schließlich warten, ob die Protestierenden nicht endlich von den Strapazen krank werden, aufgeben, oder hier umfallen… dann fangen sie an, aufzuräumen.

Musik: Freddy Quinn singt: Sankt Helena um Mitternacht…
Utrecht. Wer klaut unser Schild auf der Maliebaan? Ins Auto eines Journalisten vom Reformatorisch Dagblad gekauert, lauern wir: Da kommt, man kann es singen mit der Melodie von Freddy Quinn, im schwarzen Mantel in der schwarzen Nacht Ein Kardinal um Mitternacht Er scheint etwas zu wittern, aber hinter den beschlagenen Scheiben sind wir nicht zu sehen. Da tritt er entschieden auf das Schild zu, packt es und trägt es ins Haus. Eines Tages, als niemand da war, hatte Simonis auch die fest verankerte Parkbank vor seinem Haus, Stützpunkt unseres Protests, durch einen Kran der Stadt entfernen lassen. Unser Anwalt hatte sie mit einem Brief an die Bürgermeisterin wieder hinsetzen lassen und hatte die Utrechter auf seiner Seite, die fanden, der Kardinal sollte die Finger von den städtischen Bänken auf der Maliebaan lassen. Da begann der Kleinkrieg.

Unsere Zeiten vor St. Georgen passen immer weniger zu den Öffnungszeiten des Kiosk, wo die netten Betreiber erlaubt haben, die wenigen Gegenstände einzustellen, die den Sitzstreik erleichtern: Hocker, einen schmalen Klapptisch, zwei von den besten Schildern mit der Information…Wir schieben sie jetzt durch eine Lücke des alten Zauns, der weiter hinten die Mauer unterbricht, ins Gebüsch. Sie sind schnell weg. Den letzten Klapphocker verstecken wir sorgfältiger. Aber auch er ist eines nachts weg.
„Tot ist tot!“ schreit mein Sohn, wenn ich mal versuche, einige Jesuiten zu verteidigen, die uns bewusst sehr freundlich grüßen, wenn sie uns antreffen. „Wenn du hier stirbst, haben dich die Freundlichen genauso getötet wie die anderen.“
Die anderen sind inzwischen vielleicht froh, dass ich ohne Hocker schneller umfallen werde. Meine sehr schmerzhaften Herzanfälle nehmen an Häufigkeit und Länge zu vor dem Jesuitentor, auf der Offenbacher Landstraße in der Nacht. Schwer erträglich, sich das Gesülze der anderen vorzustellen, wenn ich hier umfalle.
Das ist unsausrottbar bei mir: die Dankbarkeit für das Leben. Wenn es ab und zu gelingt, dass ich wenigstens kurz die Wache übernehme, damit David 20 Minuten das wache Bewusstsein loslassen kann, Schlaf kann man es kaum nennen, wenn mir dabei einfällt, dass er gesagt hat: Jetzt musst du auch noch einmal sehr beten. Wir können jetzt hier wirklich sterben, stammle ich, während ich mich kaum aufrecht halten kann auf der eiskalten Straße in der Nacht: Danke für das Leben. Aber wir müssen Gott auch daran erinnern, dass wir Menschen sind. Anders als Gott müssen wir schlafen und essen.
Wenn wir tagsüber oder abends da sind, kommen jetzt immer wieder einmal neue Menschen nach so langer Zeit hier, die uns ihre Anerkennung aussprechen, dass wir da stehen für uns und andere. Auch solche aus dem Stadtviertel. Den Gesprächsansatz von manchen verstehe ich nicht, bis ich weiß, dass zwei Männer herumgehen mit einer Unterschriftenliste; wer will, dass der Sitzstreik endlich verboten wird? Anscheinend haben sie keine rechten Argumente. „Das ist ein Missbrauch von Sozialgeldern,“ sagen sie deshalb zu den Leuten. Das können sich solche nur so vorstellen. Nein, nein, meine Herren, wir zahlen den Aufenthalt selbst – mit unserem Leben wie immer. Was übrigens „Sozialgelder“ betrifft, hat David nicht einmal das allen zustehende Kindergeld bekommen ab Fünfzehn, während er weder Schule noch Ausbildung vollendet hatte. Da wurde das symbolische Todesurteil ganz praktisch: Priesterkinder gibt es nicht. Dass er, ordnungsgemäß in der deutschen Schule abgemeldet, bereitstand für die Schule in Australien, wo sein Vater ihn angemeldet, ein Zimmer bei der High School genommen hatte usw. und immer wieder im letzten Moment weggetaucht wurde, einen allerletzten Bescheid nicht schicken „konnte“, gehindert wurde, konnte sich kein normaler Mensch vorstellen, das Amt konnte die Situation nicht einordnen. Zur „Strafe“ für seine entsetzliche Einsamkeit in dieser Zeit bekam David in Deutschland kein Kindergeld mehr. Das war nur ein Detail in der räuberischen Maschine, die über uns hinweg walzte.
Allzu groß war der Erfolg der beiden Männer nicht, weil ihr Eifer mit dem Aufkommen der „Missbrauchsskandale“ zusammenfiel. Die Leute konnten sich jetzt besser Lügen, Vertuschungen, Abartigkeiten bei der Kirche vorstellen.

St. Georgen. In Frankreich schon hatte Peter mir erzählt, dass er nach Frankfurt wollte, genau nach St. Georgen. Dort wollte er verschiedene Bücher konsultieren, von dort aus Küng und Kasper aufsuchen.
Geduldig stand er drei Stunden am Flughafen Frankfurt, weil mein Flugzeug, mit dem ich von einer Arbeit in Lissabon kam, dort noch repariert werden musste. Nach Küng, Kasper, habe ich ihn gefragt, nach seiner Lektüre auch. St. Georgen kenne ich nicht und frage ihn auch nicht genauer. „Ein Jesuitenhaus“ hatte er erklärt.
Ich frage ihn auch am nächsten Morgen nicht danach, als er dorthin zurückkehrt, ich weiterfliege.
Jetzt kenne ich St. Georgen. Im Sommer, im Winter, Tag und Nacht. Und jetzt weiß ich, wenn ich noch länger als drei Tage bleibe, werde ich vor Erschöpfung sterben. David macht, halbtot, noch zwei Umzüge, ein holländischer Freund will 150.- Euro schicken, unser guter Freund hundert, unser indischer Freund, von jeher großer Organisator, der aus seinem riesigen indischen Netzwerk Benötigtes herbeischaffen kann, beschafft einen großen und einen sehr kleinen Koffer. Wir fahren ab.

Amaliastraat

Warum mir zuerst die Amaliastraat in den Sinn kommt, weiss ich nicht. Der Aufenthalt dort: brutale Härte und Strecken der Ödnis. Dass Kirche im Unrecht nicht nachgibt, nie, ist überall gleich. Auch hier am Ort der Toten, auf dem die Stadt steht: s’Gravenhage. Aber es gab auch erstaunliche Zeichen der Hoffnung.

Die Strasse ist nicht lang. Acht bis zehn mächtige Stadthäuser auf jeder Seite, frühere Herrenhäuser, Adligen vorbehalten, die so sich nicht allzuweit entfernt fanden vom Arbeitspalast der Emma, Wilhelmina… Als wir dort waren, galt das natürlich längst nicht mehr: Prominente Anwälte, die uns am ersten Tag aufsuchten, Handschlag, sich erkundigten, ein palästinensischer Geschäftsmann, der David einmal zum Tee einladen würde. Zwei anscheinend Private in solchen Häusern, die ein Vermögen gekostet haben müssen, den einen nennen wir ironisch ” der arme Protestant”, keine Ahnung mehr warum, es ist aber der andere, der am Sonntag in der nahegelegenen protestantischen Kirche nach dem Gottesdienst mit Kaffee und Tee ausschenkt. Auf seinem Klingelschild steht auch die ” Moralische Aufrüstung”, was mich im zufälligen Vorübergehen in grosse Verwunderung versetzt: Die gibt es also noch? Seit meiner Schulzeit hatte ich nichts mehr davon gehört.

Botschaften, Konsulate. Mit den Kamerunern in unserem Rücken etabliert sich mit der Zeit eine etwas engere Beziehung. In acht, neun Monaten, in der kalten Neujahrsnacht, während wir abwechselnd auf einem Stuhl sitzen, auf und ab gehen um dem fast übermächtigen Drang nicht zu erliegen, uns hinzulegen, aus Angst, dann zu erfrieren, hören wir die laute Unterhaltung bei ihrer Silvesterparty, und wie der Konsul auf die Frage seiner Gäste nach der älteren Frau und dem jungen Mann da draussen antwortet: C’ est à cause de son père.

Wir aber im Angesicht unserer Feinde. Die ein Jahr lang kein einziges Wort an uns richten, während wir gerade drei grosse Schritte gegenüber ihrer Tür sitzen auf dem schmalen, etwas dreckigen Streifen zwischen Strasse, Fahrradweg, dann Trottoir. Während wir Passanten Rede und Antwort stehen, trinken, essen, falls wir etwas haben, nicht oft war die Gefahr, zu verhungern, so nah wie hier, wir also an manchen Tagen auch bei-nahe nahe-bei umfallen. Vor uns links, neben ihrem Haus, das massive, hohe Tor zum Hof. Dort hat Novib, die hiesige Dependance von Oxfam, deren Eingang zum Verwaltungsgebäude um die Ecke ist, unter einem Schuppendach hölzerne Paletten entsorgt. Zwei, am Tag aufeinander gestellt: unser Platz.Oxfam entsorgt auch grosse Pappen, wie von entfalteten Umzugskartons, die brauchen wir für nachts. Am Abend ist das Tor geschlossen. Wir müssen auf die Katzenfrau warten. Sie hat einmal, erzählt sie, flugs heimlich den kurz geliehenen Schlüssel nachmachen lassen. Gegen zehn hält ihr Auto auf der Zufahrt, ihr Schlüssel lässt das Tor aufgleiten, sie fährt durch zu den herrenlosen Katzen, die haben sich schon erwartungsvoll versammelt. Während das Tor zügig zurückgleitet, schlüpft David schnell hinein zu den Pappen, zurück kommt er mittels einer Vorrichtung, die das Tor von innen öffnen lässt. Bis die Katzenfrau drinnen das Futter aus dem Kofferraum geholt, aufgestellt hat, haben wir die Paletten längs aneinandergelegt, ich sinke erschöpft darauf nieder. David baut mich in die Pappen ein. Die Konstruktion ist perfekt: kein scharfer Wind, kein peitschender Regen dringt zu mir durch. Wenn er dann noch einen Schwatz hält mit der Katzenfrau über die Tagespolitik, was so in der Zeitung steht, schlafe ich oft schon fest. Bin ich doch noch wach, wenn sie abgefahren ist, heim zu ihren eigenen Katzen, will David mich noch ein wenig erheitern. Gern imitiert er den Papst Woytila, wie der nicht nur mit dem Akzent, mit seiner ganzen polnischen Art holländisch sprach beim Besuch in den Niederlanden: Jullie zijn kerk- Sonder jullie geen kerk! Die Zimmer unserer Gegner liegen offensichtlich zum Teil zur Strasse hin. Es kam vor, dass ich einen der ihren verstohlen lugen sah.

Nicht nur, weil ich abends früher erschöpft bin, unaufschiebbarer, dass ich mich hinlege, teilen wir die Nachtwache so ein: zuerst David, dann ich. Im ersten Teil der Nacht können immer noch Menschen vorbeikommen, wo es zuweilen besser sein mag, wenn sie einen Mann da stehen sehen, ein Mann sie am Platz empfängt. Zuweilen auch führt David gerade nachts noch ganz interessante Gespräche, des nachts sind die Haager nicht so spröde wie am Tag, oder es sind die Lebendigeren unterwegs.

Um drei Uhr in der Nacht fühlt sich David halbtot, er kann nicht mehr. Er muss mich wecken, wir wechseln ab.
Es ist ganz still.
In der Janskerk in Utrecht hat eine über uns gepredigt. Besucher an der Aktionsbank vor Kardinal Simonis’ Haus haben es uns erzählt. Der Bibeltext: Hagar mit ihrem Sohn in die Wüste gejagt. Unsere Geschichte ist zu der biblischen Geschichte zwischen Abraham, Sarah, Hagar, Isaak, Ismail komplex überkreuz, denn wo Christen lügen müssen sie kreuz-igen, aber ich habe damals die Predigt aufgegriffen und in einer meiner leicht literarischen Miniaturen für das Heft der Walse Kerk/ Eglise Wallonne geschrieben:
A trois heures la nuit je suis Hagar dans le désert.
Jetzt widerstehe ich nicht immer der Versuchung, mich hinzusetzen auf den einzigen Stuhl, den hatten sie übrig in der Kanzlei des Anwalts ein paar Strassen weiter, der uns am Beginn zu den Adressaten begleitet hat. Deren Secretaris barst fast vor Wut in dem engen Entrée, aber gut, wir hatten es ihnen damit angekündigt. Der Anwalt brachte noch den Stuhl, eine Kanne Kaffee, eine Stange Milchbrötchen, bevor er zu verstehen gab, dass er nichts mehr mit der Sache zu tun haben wollte.
Setze ich mich doch, schlafe ich fast sicher ein. Manchmal ist es eine Qual. Ich schlafe sogar im Stehen.

Eher notgedrungen, sie konnten schlecht nein sagen, hat Novib zugestimmt, dass wir morgens ihre Toilette benutzen, an ihren Kaffeeautomaten dürfen. Sie nehmen es nie zurück, aber es bleibt das Gefühl : leicht widerwillig. Man merkt es der Frau an der Rezeption im Vorbeigehen an, dass sie immer etwas Angst hat, zu viel zu erlauben. Dann wird sie befördert, woanders hin. Neu kommt Ingrid, grosse Dankbarkeit überkommt mich beim Gedanken an sie. Ingrid hat kein leichtes Leben, wenn sie früh zum Dienst aufbricht, muss sie ihre beiden Kinder allein zurücklassen, das jüngere ist jeden Tag traurig, erzählt sie, dass Mama früh nicht da ist. In einer ruhigen Minute ruft sie zu Hause an: sind sie aufgestanden, haben gefrühstückt, ist alles in Ordnung, wenn sie jetzt zur Schule aufbrechen? Ingrid hat keine Furcht an ihrer Arbeitsstelle: “Bei mir steht jedenfalls jeden Morgen die Kanne Cappucino für Sie bereit”, sagt sie.
Die abends, nachts, sonntags so vornehm- ruhige Amaliastraat wird werktags sehr stark als Durchgangsstrasse von Autos, Fahrrädern genutzt: Stau, Hupen, Smog von halbsieben an, auf der einen Seite des Liegenden Auto an Auto, auf der anderen Fahrrad an Fahrrad. Was die Occupy-Leute in Frankfurt nicht begriffen haben oder nicht durchsetzen konnten bei ihren Mitmachern: solche Aktionen fordern äusserste Disziplin. Wie müde auch immer nach knapp vier Stunden Schlaf auf der Palette: würde David nun unter der Pappen in den Tag hinein schlafen, nähme uns bald keiner mehr ernst. Also um 7, wenn Ingrid aufgemacht hat, ” Kaffee ans Bett”, manchmal scherze ich auf Französisch: ” Alors -on fait la grasse matinée ?”
Die grasse matinée kann man am Sonntag ein wenig nachholen,wenn die Strasse morgens leer und still ist, und wir gegen halbzehn den Platz etwas aufräumen, um zwei Stunden wegzugehen.
In Utrecht hatte ich bei einem ” Markt der Kirchen” die Walse Kerk/ Eglise Wallonne, die immer noch bestehende, selbständige (” Die wollten uns schlucken”,sagt mir die Pfarrerin über die protestantische Grosskirche,” aber wir haben gut Geld”) Nachfolgekirche protestantischer Flüchtlinge aus Frankreich und eben Wallonien kennengelernt. Sonntags französischer Gottesdienst, “culte”, wie sie es sagen, französische Unterhaltung danach beim Kaffee, woanders als in Frankreich fehlt mir immer Französisch, also ging ich hin, fand Gastfreundschaft, Aufgeschlossenheit. Da hatte ich noch nicht mit der Aktion vor des Kardinals Haus begonnen. Nachdem ich begonnen hatte, waren sie zuerst sehr interessiert, fragten nach, ich schrieb in ihrem Heft über die Nächte. Aber nach einer Weile wurde ihnen unwohl, das ist immer und bei allen so , oder fast allen. So ans Eingemachte herangehen sehen macht Angst. Es war wohl beim Rat der Kirchen, wo sich alle Konfessionen der Stadt treffen, dass des Kardinals Leute den Betrugstext weitergaben, mit dem das Kind hochrangiger Kirchenleute und seine Mutter verächtlich gemacht werden sollen; schade, danach hatte ich keine Lust mehr, hinzugehen. Wenn ihr das für Ökumene halten wollt, die bösartigsten Konstrukte der katholischen Kirche zu glauben, müsst ihr das ohne mich tun.

Die Walse Kerk Den Haag habe ich zufällig sofort entdeckt. Sie liegt oberhalb der Amalia, praktisch gegenüber dem Arbeitspalast, fünf Minuten von unserem Platz entfernt, an einem sehr prominenten Ort der Stadt. Dem Pfarrer brauche ich nicht vorgestellt zu werden in dieser Gemeinde recht hochwohlgeborener Leute, oder die sich dafür halten. Er hat zweifellos meine Texte im Utrechter Heft gelesen. Er behandelt David und mich bis zuletzt besonders ehrenvoll, alle andern müssen, sehr milde ausgedrückt, sehr schlucken, als sie sich zögerlich weitergeben, man kann sich den Platz doch mal ansehen, wo wir der Dorn in der Jesuiten Auge sind. Da Ingrid sonntags nicht da ist, und der Kirchenkaffee erst nach dem Gottesdienst kommt, schlafe ich leider bei der Predigt meistens fest, so erschöpft bin ich. Soziologisch zum Teil abweichend von den Weissen die Gruppe Schwarzer, die hier sich treffen, hauptsächlich wohl, weil sie französischsprachig sind. Die Frau, die einst, bevor ihr Mann sie verliess, zum engeren Kreis um den schrecklichen Mobuto gehörte, obwohl katholisch, ist dabei, und einige weitere afrikanische Frauen, Mütter. Der von der Elfenbeinküste, der für die Chemiewaffenkontrolle der UNO arbeitet. Wenn er nicht gerade in den Ländern seines jeweils anstehenden Arbeitsauftrags ist, zeigt sich als engagiertes Gemeindemitglied. Uns holt er eines Tages am Platz zu einem Essen bei einem feinen Asiaten ab, wo er lang darlegt, warum er das Christentum gut findet. Am besten gefällt mir eigentlich die neunzigjährige Frau, mit der ich mich nach dem Gottesdienst unterhalte, während sie darauf wartet, dass ihre Begleiterin, die sie heimbringt, mit der kleinen Chorprobe für nächstes Mal fertig ist. Sie droht,klein und zierlich und so alt , und immer noch so französisch nach wie vielen Generationen in Holland, dass man sie unschwer in den Cevennen sieht:” Nous sommes des camisards”! die geballte Faust gegen die imaginären Verfolger schüttelnd.

Ich liebe Bach, und Jesu Leidenszeit, derer gedacht wird, lässt den Organisten auch hier spielen: O Haupt voll Blut undWunden, wohl in der Bachschen Version. Weil ich noch im Nebenraum bin im Gespräch mit der ungebrochenen Camisardin , treffe ich ihn wie die Chorbesprechung zu Ende ist und kann ihm eigens für Bach danken. Von ihm lerne ich nun, und er demonstriert es mir gleich, dass sich der Rhytmus bei Bach an eine Polka anlehnt. Man sieht die Bauern vor sich, hier etwa die Kartoffeleters von van Gogh, wie sie mit schwerfälligen Schritten dazu tanzen
.. V o l l S c h m e r z u n d v o l l e r H o h n/ zum Spott ….m i t e i n er D o r n e n k r o n …. Kehren wir zurück zum schweren Tanz an unserem Platz, war es Silja Walter, die vom Tanz des Gehorsams dichtete? Oder denke ich an das moderne Kirchenlied Tanze, tanze nur mit mir/ …..Ich führe euch,wo immer ihr auch seid/ Kommt mit mir- seid zum Tanz bereit!

Das kleine Pappschild gibt, an den aufgestellten Paletten lehnend, einen Satz zur Information, was wir hier machen. Für Leute, die nie davon gehört haben, trotzdem sybillinisch.
Da wird man an die Indo- Wurzeln des Germanischen erinnert: fast von jedem indo-germanischen Grundtyp ist einer dabei, wenn die zahlreichen Angestellten der pakistanischen Botschaft auf dem Weg von und zu ihrer Arbeit an uns vorbeigehen, selbst der ” Seminarist” ein Seminarist von früher in unseren Breiten, die Heutigen halten kaum so bescheiden-gesammelt ein Gebetbuch in Händen, wie der seine – vermutet- Agenda. Die Pakistanis fragen sich vielleicht längere Zeit, warum die Polizei dieser so elenden Szene Tag und Nacht kein Ende macht, die aber ins Fleisch schneidet, man kann sie nicht ignorieren. Die totale Absenz jeglicher Reaktion bei den Adressaten ist selbst so übertrieben, so unnormal, dass das die allerheftigste Reaktion darstellt. Die Polizei war übrigens da. Bald nach der Anmeldung des Sitzstreiks schob ein Polizist sein Fahrrad her,der applaudierte schon von weitem: Ich find’s prima. Danke. Alles Gute. Die Pakistanis haben sich wohl kundig gemacht, haben es wie andere im Haagschen Courant gelesen, mit Foto, da gibt es kein Vertun, und eines Tages flüstert mir der sympathische ältere Mitarbeiter der Botschaft mit verschwörerischem Blick auf die Jesuitentür zu: ” It’s against them…”
Das Emblem auf ihrer Tür so dezent, Uneingeweihte mögen es bedeutungslos finden, bestimmt nicht als eine Demonstration von Macht sehen, das heisst nichts: Als wir in Utrecht im Ansatz einer öffentlichen Diskussion , über den Ansatz kam es nie hinaus, denn sie scheuen wie eine Sekte das offene Reden über diese Dinge, sie bei einer ziemlich üblen Unwahrheit ertappten
Webers sind in Deutschland bei Gericht gewesen und abgelehnt worden
genau das ging aber nicht, stattdessen ging immer wieder unsere Akte unter, unser Anwalt sie jetzt immer wieder aufforderte: “De bron! Die Quelle dieser falschen Behauptung bitte! Wo haben Sie das her?” sind sie zwar zunächst scheinbar etwas kleinlaut ausgewichen: Ach, irgendein Fax! Wir bekommen ja so viele!… nahmen indessen rasch eine Anwältin aus einer schicken, teuren Haager Kanzlei und kamen aus der Falle heraus, als hätte es nie eine gegeben. Auch stellten Kollegen unseres Anwalt in Utrecht ihm dieses vor Augen: Nun gut, du weist nach, dass die Behauptung erfunden, ja angesichts, dass deine Klienten in den Niederlanden um Asyl bitten mussten, w e i l in Deutschland k e i n e solche Klage angenommen wurde, wird, eine substantielle üble Nachrede darstellt. Nehmen wir einmal an, die Jesuiten werden sogar verurteilt. Was hast du dann davon? Wird sich irgendetwas ändern für deine Klienten?
So ist das mit der Kirche, Orden.

Mit ein paar Cent geht einer zum grossen Billigsupermarkt nicht allzuweit weg, zu Fuss.Schwer von einem Fuss auf den anderen treten wie bei der Polka hinten an der Wand am äussersten Eck des Wurstregals, was kann man zur Not… wären die Plakjes, eingeschweisste Wurstendchen nicht eher etwas für die Katzen der Katzenfrau? Aber David braucht ab und zu sowas wie Fleisch, seien es Schnipsel.
Ich bin eine Blutgruppe, die schon in so ferner Vergangenheit da war, dass Menschen noch keine Kuhmilch zu sich nahmen weshalb ich wie die anderen meiner Gruppe schlecht Milch vertrage, Kuhmilch eben. Also ist eine Tüte Milch für zwei keine Option, schade, das wäre doch was. Die Frau des Kameruner Chefs empfiehlt die Sardinen, wie sie überhaupt auch öfter hier einkauft, das ist sympathisch, das Konsulat spielt sich nicht auf etwa mit Lieferungen aus Feinkostläden. Zu den öligen Sardinen braucht man aber Brot, beides zusammen ist meist zu teuer für uns.
Zum Herbst hin tauchen die Grosspackungen Billigstspekulatius auf, zwei Tage wie Sägespäne im Mund, aber etwas im Bauch.

In Richtung Kasse, etwas ab vom Weg steht ein grosser Tisch voller Süssigkeiten, lose,grosse Bonbons, kleine Schokoladen… kaum eine Kundin, ein Kunde kommt daran vorbei ohne sich mehr oder weniger stickum zu bedienen. Der Markt stellt eine Warnung auf:
E e n s n o e pj e i s o o k d i e f s t a a l!
” Eeen snoepje is ook diefstaal” raunt mir die gutgekleidete Dame ins Ohr, wie sie zugreift. Ich auch.

Taumeln nachts um drei beim Aufstehen. Eine Benommenheit morgens, die nur langsam mit Ingrids Kaffee weicht, später in Wellen wieder zunimmt. Ein immer stärker werdender Druck auf den Kopf, die Last auf der Stirn wie von einem dauernd viel zu fest sitzenden , schweren Helm. Ich kann aber auf Fragen von Passanten noch antworten, die auf ihrem Weg halblaut das Pappschild lesen:

Deze actie is een middel in een groot conflict met de Jesuitenorde

kann auch noch ausgiebig erklären, wenn sie es wünschen,öfter muss auch erklärt werden,was das überhaupt ist: Jesuiten. Ich kann noch die grüssen, die drei Mal in der Woche auf dem Weg ins Fitness- Centrum über dem Kanal unten quer vor der Amalia hier halten, uns wieder zurufen: ” Sterkte! Succes!”….. bis es nicht mehr geht. Der Hunger bringt uns schier um.
Wenn es so weit ist, bleibe ich einen Tag allein am Platz. David geht zum Bahnhof, zu den Zügen. Er bittet einen Schaffner, ihn so mitzunehmen bis Utrecht. Sie stimmen immer zu. ” Schnell rein!” ruft einer fröhlich, der ihn erkennt vom letzten Mal. Zuweilen steigt in David eine Erinnerung auf an den eher etwas schüchternen Intellektuellen, der er eigentlich ist. So gar nicht dreist, so gar kein Hans- Dampf- in- allen Gassen. Aber die Niederländer machen ihm die Hungerfahrt nicht schwer.

In Utrecht geht David zum Pfingstler. Pfingstler? Als wir ihn kennenlernten, war er Mitglied der Pfingstgemeinde. Erst als die Südamerikanerin kommt, mit der er eine kleine Tochter hat, die Gemeinde ihn eindringlich ermahnt, wenn er jetzt mit der Frau zusmmenlebt, muss er heiraten, die Ältesten ihn einbestellen, drohen, ihn vom Abendmahl auszuschliessen, bricht er mit ihnen. Er will sein eigener Herr sein in diesen Dingen. Für uns bleibt er aber für immer ” der Pfingstler”.

Der Pfingstler war Soldat in Jugoslawien. Er war in Srebenica dabei.

Jetzt hat er, obwohl Mitte Dreissig, obwohl arbeitend in der Zorg, ein Zimmer in einem Haus für Studenten. Es ist unmöglich, uns da von den Studenten akzeptieren zu lassen, treffen wir sie, noch in Utrecht, trifft David sie jetzt beim Besuch unvermeidlich auf dem Flur, in der Gemeinschaftsküche: sie können nicht anders, als ekelhaft von oben herab reagieren . Zwar sind zu der Utrechter Zeit die Zeitungen voll von unserem Protest, hat mich das Fernsehen für eine Hauptabendsendung ausführlich interviewt, zwar sind die meisten Utrechter geradezu begeistet von uns, aber… wir sitzen auf einer Bank vor des Kardinals Haus, nachts liegen wir auch da. Sie sind deutlich dümmer als die Älteren. Wir gehen schlechten Zeiten entgegen.
Drei Tage bevor wir nach Den Haag gingen, direkt vor das Angesicht unserer Feinde, hat der Pfingstler mitbekommen, dass ein Zimmer ausgeräumt, noch nicht wieder bezogen wurde. Er schafft unauffällig eine Matratze hinein. Mein Geburtstagsgeschenk: Schlafen auf einer Matratze in einem ruhigen Raum am 29. März, also Widder, in der Nummer 29, Ramstraat.
Wenn David jetzt in der Ramstraat den Pfingstler antrifft, gibt der ihm etwas Geld, wenn er welches hat, sein Konto ist immer weit überzogen. So war das auch bei Lenn, den wir Gott sei Dank im letzten Moment kennenlernten, der uns über die allerletzten Tage in Carcassonne half. Lenn, jetzt relativ alt, war bei der Fremdenlegion gewesen, wo ihm, wie er dankbar erzählt, Ex-Deutsche die blitzschnellen, lebensrettenden Reflexe beibrachten, wenn zum Beispiel das Gewehr in Sekunden, herumgerissen, in die andere Richtung zielen muss. Wie man sich tot stellt unter einem Haufen Toter in Indochina und so überlebt lernte er allein durch Praxis. Lenn nimmt Kredit in seinem Stammrestaurant, um uns zu einem grossen Essen einladen zu können. Nur Dank seiner fanden wir noch die Kraft, bis ins Asylbegehren nach Holland zu kommen

Hat der Pfingstler kein Geld, weiss er,wer welches hat oder sammeln kann. Bert B. besonders der biblisch aussieht mit seinem Bart, seinen Sandalen, biblisch lebt von Sozialhilfe wovon er noch anderen abgibt.
Einmal sind wir doch fast zu Boden gegangen in den Härten von s’Gravenhage. Da hat Bert B. mehr für uns gesammelt, man muss gerecht sein, es nennen, da war wohl auch die Pfingstgemeinde im Spiel, die können noch mehr, als zur Eheschliessung drängen. Da haben wir uns einen kleinen Urlaub erlaubt. Wir haben in Venlo von ankommenden Deutschen, die ihres nicht mehr brauchten, ein gültiges Wochenend-Ticket ergattert, sind nach Nürnberg, zu meiner Tante. Ich glaube, sie hat nie ein Wort verstanden von unseren Kämpfen, hat uns aber immer beigestanden, dabei dem wachsenden Ärger der anderen Nichte, des Neffen am Ort sehr, sehr lang standgehalten. Die teilen die Menschheit ein in Gewinner und Verlierer, sie Gewinner, wir Verlierer und die Gewinner, denken sie, verstehen die Welt, wie sie wirklich ist. Auch wollen sie sicher die Maxime befolgen: The winner takes it all. Wir blieben fünf Tage bei ihr, erholten uns etwas.
Auf der Rückreise unterbrechen wir in Düsseldorf. Wir müssen doch nochmal was versuchen. Schliesslich hatte ich ja in Deutschland vor einigen Jahren, als ein neuer Betrugsknoten nicht nur Davids Unterhalt stahl, wie eh und je, sondern uns direkt um viel eigenes Geld brachte, ein immenser Schaden mit katastrophalen Folgen, bei der Staatsanwaltschaft Klage geführt gegen den Jesuiten- Orden, das übersahen sie und nannten in der Antwort nur Peter, Davids Vater, so fing es schon an. Durch geschickte katholische Manipulation gingen vor dem Verfassungsgericht die Akte und wir aneinander vorbei, es soll kein Recht geben, sagt der Staat, wo es die Kirche nicht will. Wo ist diese Akte inzwischen? Wir suchen die Staatsanwaltschaft auf, wo man uns zu einer jungen Staatsanwältin schickt. Die Justizangestellte, die uns dort empfängt, regt sich auf, dass da welche direkt kommen und fragen: wo ist unsere Akte abgeblieben? Im Keller ist sie, das dauert vier Wochen, behauptet sie, die da rauf zu holen.Das regt David auf . Er sieht die Amaliastraat vor sich, die Härten, die Gefahren. ” Ich komme aus dem Ausland!” schreit er,” und Sie reden mir von Keller und vier Wochen!” Die Staatsanwältin fragt ärgerlich nach. Ich sage ihr, wie abgefeimt die Sache vom Orden eingefädelt ist.

Als ein Anwalt später die Akte für uns bestellt, kann man ihre Aktennotiz sehen, die liest sich so: zwei Durchgeknallte wollen ihre Akte: ein junger Typ, der behauptet, er sei “Ausländer” , ein Frau, die behauptet, wenn Jesuiten Frauen ” geschwängert ” haben, wird der Jesuit an eine alte Witwe verheiratet! Soweit die heiligen Worte, heisst es in der Messe, so weit die Worte der Rezeption eines solchen Skandals beim Staat, sage ich hier.
Später bekommt David einen Brief von ihr mit dieser Belehrung: Wir fangen mit solchen Ermittlungen nur an, wenn es eine Aussicht auf Erfolg gibt. Herr Kelly hat aber kein Geld. Sie hat dieVaterschaftsanerkennung von vor ungefähr 25 Jahren gelesen, an der alles falsch ist, ausser seinen, Davids und meinen Daten und dass er Davids Vater ist, ein seltenes Dokument, wie man mit Fakten durch und durch lügen kann. Dass er, zuletzt als Rechtsprofessor an der Universität Adelaide und zu allerletzt, etwa zu der Zeit, als wir auf der Amalia sind, denn er lebt noch mit 88, mit verbliebenem Geld eine Spende an seine ehemalige Jesuitenschule gibt, weil sichergestellt und nachgewiesen werden muss, dass er nie nie seinem eigenen Sohn etwas gibt! findet sich umgedreht gut darin wieder Es passt, wie auch sie versucht, herumzudrehen: Wovon leben Sie überhaupt? fragt sie David aggressiv, als sei er der Beklagte.

Von einem kleinen Geldgeschenk hat David ein Sakko gekauft, in einem Second- Hand-Shop zwar, es sieht aber aus wie ein teures neues. Das hat er an, wie wir dann auch in Utrecht die Rückreise unterbrechen. ” Das ist doch Bert B.!”, völlig verblüfft. Der sitzt mit gekreuzten Beinen im Einkaufszentrum des Bahnhofs auf dem Boden, Flöte spielend. David tritt auf ihn zu . Hier das Bild: der junge Herr im eleganten Sakko spricht den Strassenflötisten an, der in einem Pappbecher Münzen entgegennimmt. Was denkt, der das sieht? – So trügt der Schein.
Als wir längst wieder in Deutschland sind, man könnte interpretieren, um uns endlich der Verfolgung auszusetzen, der wir in Frankreich, in Holland entgehen wollten,muss der Pfingstler am Telefon berichten, dass Bert B. in die Psychiatrie eingewiesen worden ist. Wer die christlichen Sprüche, die sie sich in den Kirchen gegenseitig vorlesen, so ernst nimmt, muss verrückt sein. Wir aber haben von ihm über uns hier einen der vernünftigsten Sätze gehört: Dit soll een questie van lange adem zijn.

Es wird dunkel, dunkler, die Strasse beruhigt sich, ich werde immer unruhiger, wie ich allein am Platz sitze. Sonst war David immer zurück, wenn die Dämmerung sich herniedersenkte. Die aufgeregten Gedanken kann ich nicht niederhalten: Hoffentlich ist nichts passiert! Wie würde ich es erfahren? Was tun? Und wenn mir doch mal hier einer zu nahe kommt? Würden die Kameruner, die im Konsulat auch schlafen, meine Hilferufe hören?
Und doch hält sich diese Furcht in Grenzen. Es ist ein anderes. Ein Schauder, wie durch die fast dunkle Strasse der Wind weht.
Ich halte es nicht mehr aus hier, auch Auf- und Abgehen hilft nicht, es zieht mich die Strasse hinauf in die Richtung, von wo David kommen muss. Sogar um die obere Ecke, das habe ich sonst nie gemacht, den Platz völlig aus dem Blickfeld verschwinden lassen.
Weiss! Ganz in Weiss drei Schritte vor mir wie aus dem Boden gewachsen plötzlich ein anderer. Der tiefe Schrecken, der mich an der Stelle festhält,während er mich seltsam unbestimmt anblickt. Doch in dem Augen-Blick Gott sei Dank taucht David hinter ihm auf, drängt sich an ihm vorbei zu mir. Wir machen uns auf den Rückweg. Der Weissgekleidete überholt uns, geht voraus. Niemand spricht ein Wort. Der Weisse macht Halt auf dem Fahrradweg gegenüber den Paletten,wendet sich zu uns, die wir jetzt an unserem Platz zu stehen kommen. Er wirkt missmutig, fast verstört beim Anblick dieses Ortes, unserem Anblick.Er schwenkt ein Papier. ” Ich kaufe keine Drogen!” fährt David ihn an. Das scheint ihn zu ärgern. Begreift Ihr denn nicht? Wieder zeigt er das Stück Papier. Dann, wie um zu sagen: wenn ihr partout nicht wollt…! reisst er es- nein, nicht durch, reisst es aber ein, schmeisst es in unsere Richtung, rennt augenblicklich los. Was war das? David rast hinterher, um die Novib-Ecke, der andere ist verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt, oder er hat sich in Luft aufgelöst. Die verschlossene Novib-Tür,ein anderer Eingang ist hier nirgendwo, die Strasse, der Kanal, der Weg am Kanal, die Brücke unweit… liegen leer und übersichtlich da. Da ist nichts.

David kommt zurück. Es hat sich alles in wenigen Minuten abgespielt nach irdischer Zeitrechnung. Sind wir in eine folie à deux geraten? ” Die Katastrophe”, sagt David,” habe ich dir noch gar nicht berichten können”. Er ist so spät zurückgekehrt, weil er in Utrecht keinen angetroffen hat. Immer wieder ist er zu den Wohnungen des Pfingstlers, des Bert B. gegangen – vergebens- und hat sich schliesslich schwindlig vor Hunger auf den Weg zum Bahnhof gemacht – mit leeren Händen.
Da liegt noch das Papier auf dem Fahrradweg. Heben wir es doch auf. Es ist ein 10 Euro Schein! ein Stück eingerissen. Gerettet.

” Ich weiss, wer Sie sind”, sagt die Chefin der Diakonie, die grosse Verwaltung liegt auf der anderen Seite vom Hof, ihr Eingang nicht weit in der Parallelstrasse. Zuerst gibt mir das ein zwiespältiges Gefühl. Sicher hat sie es in ” Trouw” gelesen, voriges Jahr. “Trouw” traut sich manches nicht,ungefähr protestantisch- grün schreibt die Zeitung möglichst ohne frommen Protestanten auf die Füsse zu treten, von denen ich viele kennengelernt habe in Holland, Katholiken zu verprellen. Das ist fast unmöglich bei unserem Thema. Man muss es dazu in ein konventionelles Korsett zwängen mit Ausdrücken, die Bewertungen sind und seit Jahrhunderten, wenn nicht länger Frauen hart selektioniert haben bis die immer weniger wurden, die aus reiner Liebe zum Leben, Freude am Leben Kinder bekommen, bis endlich die Kinderzüchterinnen und Kinderzüchter zum Zug kommen mit der einzigen Voraussetzung: Geld. Sie kommentiert nicht, sie scheint zu verstehen. Sie läd uns freundlich ein, immer mal eine kleine Auszeit zu nehmen in ihrem Haus, dort einen Kaffee zu trinken. Das tun wir, das tut gut, nicht nur der heisse Kaffee, als es kälter wird, sondern auch, dass ich zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde in einer ganz anderen Umgebung sitze, etwas anderes sehe, höre in ruhigen Räumen – und ohne den Smog. Ich bin jetzt manchmal so seltsam heiser an unseremPlatz, da kommt mir etwas angstvoll eine Erinnerung daran, dass es so etwas wie Schilddrüsenkrebs wirklich gibt und-ich verdränge es schnell wieder.

Mit der Zeit machen wir uns Kaffee, Tee in der Teeküche selbst, und wir können nicht anders: wir giessen uns auch immer mal eine von den Tassensuppen auf. Da taucht jetzt oft einer der Mitarbeiter auf, stumm wie ein Fisch verfolgt er mit anklagendem Blick mein Tun.
Es dauert aber, bis sie mir sagen muss: “Ich kann es gegenüber den Mitarbeitern immer schlechter auf holländisch uitleggen, das trifft es gut, aber es heisst hier sicher auch: durchsetzen. Man muss bewusster sein, auch intelligenter, als die anderen, um anderes anders zu begreifen als üblich, neu. Das ist sie. Aber generell ist das schwer für die Christen. Bei allem eventuell guten Willen sind sie stark an die Kategorien gebunden, als wäre ihr Hirn gestanzt: der Arme muss wie ein Armer behandeld werden, vielleicht auch in Schach gehalten, dann wollen wir gern helfen. Es kann auch eigentlich keinen Inhalt geben für individuellen oder jedenfalls im Ansatz indviduellen Protest, den Inhalt vertreten ja sie. Das ist nicht viel anders als das Unbehagen bei Novib, hier eher festgezurrter. Wobei Evangelische, wenigstens hier in Holland, manchmal in Deutschland, wo wenige fanatisch Evangelikale sind, immer einmal etwas verstehen, mittragen können, wenigstens solange bis die Konformistischeren sie zum Einlenken zwingen. Wie bei unserem guten Freund aus der Unibibliothek in Utrecht, der mit seiner ruhigen, nachdenklichen Art und grossen Intelligenz vieles begriff und hilfreich begleitete – bis nach der ersten Aktion in Utrecht. Wir sahen, dass David sechs Tage bis zum Umfallen in der Aluminiumfabrik arbeiten müsste, wo er angefangen hatte, um uns beiden vielleicht gerade eben vier Nächte in dem Hostel in der Stadtmitte zu zahlen, wo ein paar Halbgare im Team ihren Respekt vor den Gästen mit der stets auch ohne Anlass betonten Hochachtung vor Homosexuellen und leicht süffisanter Dienstfertigkeit für schnieke Touristen erschöpft sahen. Zahlen durften wir wie alle, aber wenn sie merken, dass du immer wieder kommen musst, behandeln sie dich abfällig, das heisst: wie Abfall. Lieber schlafe ich dann auf der Terrasse des berühmten Bauhaus- Gebäudes, wie hiess es doch.
Wir besprechen das Problem mit dem Freund. Er denkt nach: Ein Freund von mir muss für einige Monate ins Krankenhaus. Wenn ihr solang in seine Wohnung ginget…Da haben sich seine Frau, seine Kinder, sein Pfarrer! zusammengerottet: Niemals! Das geht zu weit.
Generell erschienen mir die konventionellen Grenzen im Katholizismus eher weiter, unbehinderter durch das, was früher Bürgerlichkeit hiess.Überschreitet man sie aber,muss sie überschreiten, ist es eher wahrscheinlich, dass man daran stirbt.

Am Abend vor der Nacht, die später als die kälteste des Jahres in der Zeitung steht,kommt die Diakoniechefin an den Platz: ” Diese Spende”, erklärt sie und überreicht den Umschlag,”ist ausdrücklich zweckgebunden. Sie müssen heute hier weg und in einer Herberge schlafen”. Wir gehen etwas essen und in die Den Haager Jugendherberge. Die Engel, die uns retten, sind sehr verschieden.
Kontaktverbot, Redeverbot, alles…aber am späten Nachmittag vor der zweitkältesten Nacht hält es der Jesuitenchef nicht mehr aus. Wie David gerade nicht da ist, kommt er zu mir. Er steht mir an der Seite vom Platz gegenüber. Ein stiller Augen-Blick in der Eiseskälte, im gefrorenen Schnee. Dann hebt er beide Arme in einer Geste der Ohnmacht. Lässt sie wieder sinken, wendet sich um und geht.

Man kann ja nicht immerzu nach Utrecht fahren, und von einer Tassensuppe dann und wann kann man nicht überstehen. Wir müssen einen Spendenaufruf lancieren, sagt David, er schreibt einen kurzen Text, druckt ihn beim Pfingstler aus. Er macht ein erst mal leeres Konto auf bei einer kleinen Bank in der Nähe. Der Respekt, die Höflichkeit der Anwohner der Amalia macht es möglich, einige mit dem Papier zu besuchen, ein kleines Gespräch zu führen, der palästinensische Geschäftsmann serviert Tee. ” Es sieht aber nicht unbedingt so aus, wie wenn sie spenden wollen,” berichtet er, “aber ich kann ja gelegentlich am Bankautomaten gucken.”
Wie der Hunger wieder quälend wird, die Gefahr hier umzufallen, näherückt, geht er mit 65 cent zum Billigmarkt. Er wird schnell zurücksein, wahrscheinlich mit einer Dose Capucijners. Ich will zumindest noch aufrecht stehen, solange ich allein am Platz bin. Eine Weile – da! auf der anderen Strassenseite, ich traue meinen Augen nicht, kommt er, eine prallvolle Einkaufstüte in der Hand. Er spielt es im lässigen Ton herunter: ” Na ja, ich hab jetzt mal Brot genommen, Gouda, Äpfel, Mineralwasser…”Dann erzählt er: ” Ich hatte ja eigentlich keine Hoffnung, wie ich zum Geldautomaten ging, aber… dann konnte ich 20 Euro ziehen.” Bernanos, der mit Frau und sechs Kindern immer in grosser Armut lebte, auch als er schon beühmt war als Dichter Sous le soleil d e S a t a n , nach Brasilien ausweichen musste, wo er in einem praktisch offenen Schuppen lebte, Bernanos aus Brasilien: ” Herzlichen Dank für Ihre Geldsendung!… Meine Frau ist sofort auf den Markt gegangen… und hat uns gleich eine grosse Gemüsesuppe gekocht.” Bei so grossem Hunger ist die überraschende Gabe immer ein Wunder.Gott sei Dank! Ist das ein biblischer Satz: Sie assen und wurden fröhlich.

Ab und zu geht David wieder zum Automaten, auch anderswo, wenn gerade einer am Weg ist und kann jedes Mal 20 Euro ziehen, nicht mehr, nicht weniger. Bei welchem eher formalen Anlass hat er die Bank aufgesucht, wo er hört: auf dem Konto ist null Eingang verzeichnet. Es war nie Geld darauf.

Im Februar sind wir zwei Tage weg. Am Abend der Wiederkehr, als wir eben wieder in die Amalia einbiegen – da kann der Platz von weitem ein Gefühl wecken, wie wenn man nach Hause kommt- und nachdem wir einige Meter gegangen sind, sage ich “Hier liegt etwas anderes drüber, eine andere Stimmung.” Was ist es? Es ist ruhig, niemand zu sehen.
In der Woche davor hatte David mit der Strassenbahn einen kurzen Ausflug ans Meer gemacht, zum Hafen. Bei Sturm. Die Wogen brandeten hoch entgegen. Wie er wiederkam, ein winziger Anlass. Hat einer v o n i h n e n aus dem Fenster geguckt? nahm er plötzlich Anlauf, auf das Haus zu, trat gegen die Jesuitentür.”Das Meer hat mich so mit Energie aufgeladen,” erklärte er später. An dem Tag folgte nichts. Erst am nächsten Tag – hatten sie einen gemeinsamen Beschluss gefasst?- kamen ein paar heraus, untersuchten ein bisschen bedächtig, ältlich, das Schloss, riefen die Polizei. Die nahm David kurz mit, er kam gleich wieder.Kaputt war auch nichts. Das übliche train- train stellte sich wieder ein.
Aber jetzt liegt eine Stimmung über der Amaliastraat, keine üble, eine Stimmung, wie wenn noch etwas geschehen ist. Am nächsten Tag kommt der den wir nennen ” der von den hohen Gebäuden”, ein netter, leicht schrulliger Neu- Sympathisant, der leidenschaftlich interessiert ist an jeder Art von hohem Bauwerk in Büchern, auf Bildern mit sowas wie dem Eiffelturm (heiliger Freud!), der erzählt es: Der Haagsche Courant hat getitelt: Priesterzoon trappt deuren in. Bei den Niederländern steigt David noch mehr in der Achtung: der kann also nicht bloss wie ein Lamm da stehen, der kann auch anders! Anders bei den Deutschen um die linke Ecke, die da in einer Werbeagentur arbeiten. Vor Weihnachten waren sie bei uns, dann setzten sie ein grosses Foto, einen Text von uns als Leitmotiv für eine Woche in die Agenda, die als Jahresendgeschenk an ein paar tausend Geschäftsbeziehungen geschickt wurde. Die Deutschen sind beleidigt, dass er gegen die Tür getreten hat. Sie wollen ihn kaum noch grüssen.

Dauert eine solche Aktion lang -das ist jetzt mehr als ein Dreivierteljahr- ist es Zeit ans Aufhören zu denken, wenn die Sadisten auf den Plan treten. Das ist noch kein Sadist, der jetzt zwei Mal nachts mit dem grossen Hund kommt, den ohne grosse Worte hier herumschnüffeln lässt, ihn auf Aufforderung erst mal nicht wegnimmt. Der macht dabei ein krankes Gesicht,das ist einer von denen, die machen, dass Obdachlose nicht ruhig auf der Strasse nächtigen können, er spielt dann damit, dass die lieber nicht die Polizei rufen. Beim Wort ” Polizei” verschwindet er und kommt nicht wieder.
Mysteriös gefährlich ist ein anderer. Wo kommt der eigentlich her in der Nacht? Ist da ein sonst unauffälliger Ausgang irgendwo neben den Jesuiten? Deren Haus hat er gekauft, erklärt er, schon gleich will er hier Ordnung schaffen…er könnte auch mit seinem Auto hier drüber fahren…mit Blick auf die Pappen, worunter ich liege. Da gehen wir zur Polizei. Das ist bedreiging bestätigen die. Dass wir das angezeigt haben, zeigen wir wiederum per E-mail dem Jesuitenprovinzial an. Der Mann erscheint nicht mehr.

Die Sadisten sind solche, die von sich aus etwas anbieten, dann aber, geht man wirklich hin, so tun, wie wenn sie von nichts wissen und du der letzte Bettler bist. So die Kneipe in Richtung Arbeitspalast. Heisses Wasser.”Wir können Ihnen doch jederzeit heisses Wasser geben, ” haben sie angeboten. Teebeutel haben wir selbst. Aber öfter als drei Mal ist es nicht möglich, so frech sind sie.
Einer, der regelmässig mit dem Fahrrad vorbeikommt, stellt sich als Stadtverordneter vor. “Wenn Sie mich mal zu Hause aufsuchen”, bietet er David an,” oder auch im Stadthaus,können wir zusammen überlegen, was ich in der Sache für Sie tun kann…” Als David hingeht, ist es gerade mal, dass er nicht hinausgeworfen wird. Wie er sich dann bei der Stadt erkundigt,sind die da etwas überrascht: “Wie is précis H.K.–?” Er hat gerade sein Mandat verloren.
Haben wir uns wenigstens von Ingrid verabschiedet? Wir machen uns auf den Weg.
W.W.